GEDICHTE
IM UNTERRICHT DEUTSCH UND DEUTSCH ALS FREMDSPRACHE (DAF)
Hartmut Schönherr
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SEITENINHALT
Gedichterörterungen
Joseph von Eichendorff: Mondnacht - Conrad Ferdinand Meyer: Der
römische Brunnen - Georg Trakl: Ein Winterabend - Ingeborg
Bachmann: Reklame
Grammatikgedichte zu Verbformen
Präsens - Präteritum - Perfekt - Futur - Partizip Perfekt -
Partizip Präsens - Passiv - Konjunktiv - Infinitiv
Grammatikgedichte zu Adjektiven
Adjektivitis - Steigerung - Gegensätze - Reihung
Lingu-Lyrics
Ikon - Indiz - Syntagma - Paradigma
Gedichtmodelle
Haiku - Schneeball - Elfchen - Stufen - Rondell - Ghasel |
Svenja Rehse, Luftlandschaft#7, 2019
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Die Beschäftigung mit Gedichten im Schulunterricht ist ein strittiges
Thema, die einen fürchten die Verhunzung der Lyrik, die anderen eine
Überforderung der Schüler, die dritten das Desinteresse der Schüler.
Für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache wird zudem die Relevanz
angezweifelt, solange die Schüler die Sprache nicht beherrschen. Doch
kann gerade die Beschäftigung mit den kleinen Sprachgebilden der Lyrik
das Gefühl für die fremde, neue Sprache schärfen und die Motivation
zum Erlernen stützen - auch ganz am Anfang des Lernprozesses. Bei
einem kurzen Gedicht ist es durchaus möglich, die dem Verständnis
fehlenden Wörter rasch nachzuschlagen. Ein paar allgemeine Wörter,
Konjunktionen, Präpositionen, Wortstämme, sollten natürlich schon
bekannt sein. Gute Gedichte halten einiges aus, sie sind nicht kaputt
zu machen durch laienhaften Zugriff. Eher werden sie beschädigt durch
ästhetisierendes Auf-den-Sockel-Stellen.
Vermieden werden sollte allerdings gerade im DaF- Unterricht und im
Fremdsprachenunterricht allgemein die Frage: Was will uns der Dichter
damit sagen? Ergiebiger ist die Frage, was der Text uns sagt - und
damit: Was die fremde Sprache uns sagt. Dabei wird auch das Empfinden
für Nähe und Ferne des zugehörigen historischen, kulturellen und
sozialen Kontextes geschult.
Gedichte im Unterricht können drei sehr unterschiedliche Funktionen
haben. Einmal als Teil kultureller und kulturgeschichtlicher
Überlieferung, der zum Bildungskanon gehört. Zum anderen als Element
der Auseinandersetzung in der Persönlichkeitsbildung der Lernenden, in
kultureller und charakterlicher Selbstbestimmung. Und zum dritten
schließlich als Mittel zur sprachlichen und ästhetisch-künstlerischen
Schulung - dies zweifach: rezeptiv und in der eigenständigen
Produktion von Gedichten. Im Fremdsprachenunterricht stehen die erste
und die dritte Funktion im Vordergrund, wobei die erste eher dem
universitären und schulischen Bereich angehört, die dritte dem
schulischen und außerschulisch-erwachsenenbildenden Bereich.
Allerdings kann je nach Gruppe und zur Verfügung stehender Zeit
durchaus auch im Fremdsprachenunterricht der Aspekt der
Persönlichkeitsentwicklung bedeutsam werden.
- Auf
dieser Website wird vorrangig auf die Gedichtproduktion im
Grammatikunterricht Deutsch als Fremdsprache oder im
Grundschulunterricht eingegangen.
Zum Themenbereich "Gedichtinterpretation" gibt es lediglich einige
unterrichtspraktisch orientierte Beispiele. Für ausführliche
Interpretationen deutschsprachiger Lyrik verweise ich auf meine Gedichte-Werkstatt.
Lektüreempfehlung: Stiftung
Lesen/Sächsisches Staatsministerium für Kultus und Sport, Gedichte
im Klassenzimmer. Ideen für den Deutschunterricht in den
Klassenstufen 1-4, 2010
- GEDICHTERÖRTERUNGEN
- Es
gibt zahlreiche Gedichte, die mehr oder weniger explizit
grammatische Themen oder semantische Komplexe behandeln, so vor
allem von Christian Morgenstern (am bekanntesten "Der Werwolf") oder
später von den Dichtern des Dadaismus und der experimentellen
Poesie, etwa Ernst Jandl (z.B. "lichtung" mit der Verwechslung von
"lechts und rinks"). Für die Erörterung, zumal im
Fremdsprachenunterricht, geben diese Texte meist wenig her - eher
als Beispiele, Vorbilder, Anregungen für die eigene spracherwerbende
Produktivität (siehe dazu weiter unten im Bereich
"Gedichtproduktion"). Ergiebiger zur Erörterung im Unterricht sind
Gedichte, die etwas zur Kultur des Zielsprachenlandes vermitteln,
Anliegen der Lernenden thematisieren, Diskurse aus dem
politisch-gesellschaftlichen Bereich tangieren,
historisch-sozialgeschichtliche Anknüpfungen erlauben. Um solche
geht es bei den nachfolgenden Besprechungen, Interpretationen,
Erläuterungen, Erörterungen.
- Joseph
von Eichendorff: "Mondnacht"
MONDNACHT
Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst'.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
- Joseph
Freiherr von Eichendorff gilt als Vertreter einer romantischen (im
historischen wie im übertragenen Sinne) Poesie, die sich weitgehend
im Wohlklang und in überholten Bildern erschöpft. In Klängen und
Bildern, die unserer Wirklichkeit heute nicht mehr entsprechen und
mit denen folglich viele Schüler wenig anfangen können, die sie
bestenfalls erheitern. Zwei Zugänge biete ich hier an, ein
vermeintlich selbstgenügsam poetisches Werk wie "Mondnacht" Schülern
interessant zu machen. Da ist zum einen der
biographisch-zeithistorische Hintergrund massiver
Landschaftsveränderungen durch industriellen Zugriff auf die von
Eichendorff gefeierten Naturelemente. Und da ist zum zweiten die
sprachliche Gestaltung in der Lautstruktur mit kleinen, feinen
Reibungen und auf grammatischer Ebene mit einer scharfen
konjunktiven Differenz, gesteigert durch die Zeitform des
Präteritums.
- Eichendorffs
gilt
auch als "Dichter des deutschen Waldes". Die Familie verfügte in
Schlesien über großen Waldbesitz, der durch die Mutter weitgehend
dem Kahlschlag übergeben wurde, um die Schulden des Vaters nach
dessen Tod 1818 zu tilgen und die Familie weiterhin standesgemäß zu
unterhalten. Das Gedicht wurde 1837 veröffentlicht, der Kahlschlag
in deutschen Wäldern war weiter fortgeschritten, insbesondere im
hoch industrialisierten Schlesien mit Steinkohlebergbau und
Hüttenwesen. Die Vergangenheitsform des "Es rauschten leis die
Wälder" muss daher ernst genommen werden. Anschließen läßt sich
neben dem Themenbereich "Hüttenwesen-Köhlereien-Bergbau" auch das
Thema "Nachhaltigkeit" - Geschichte des Begriffs im Forstwesen
ausgehend von Hans Carl von Carlowitz und seinen Vorgängern.
- Eine
sprachliche Analyse des Gedichts offenbart seine besondere
Raffinesse. Lassen wir die Schüler doch einmal "reparieren", was in
diesem Gedicht für sie falsch klingt. Fragen wir z.B., was sie vom
Reimpaar "Himmel-Schimmer" halten. Auf das Risiko hin, dass sie
vorschlagen, auf "Himmel" mit "Pimmel" zu reimen. Verweisen wir auf
"Blütenschimmel". Und schon haben wir eine Diskussion zum
Unterschied zwischen Kitsch und Kunst. Oder fragen wir nach dem
Rhythmus in der dritten Strophe. Lassen wir die Schüler den Rhythmus
der ersten beiden Strophen reproduzieren. Etwa mit "Und meine Seele
spannte/Die weiten Flügel aus/Sie flog durch stille Lande/Als flöge
sie nach Haus". Da wird die Qualität des Gedichtes deutlich -
jenseits aller vermeintlichen Rührseligkeit.
- Der
Konjunktiv rückt gleich in der ersten Zeile gemeinsam mit dem "es" die
Perspektive des Gedichtes explizit weg von der idyllisierenden
Bildordnung einer harmonischen Natur, in der Himmel und Erde ein Paar
im "Hieros gamos" sind, ins "als ob". Auch die Anhubzeilen der dritten
Strophe, "Und meine Seele spannte/Weit ihre Flügel aus", verweist auf
einen dem Gedicht externen Sachverhalt, machen die Distanz der
lyrischen Bildproduktion zur Realität programmatisch, machen die
seelische Wirklichkeit zu einem Gegenbild der äußeren Wirklichkeit in
der konjunktivischen Illustration "als flöge sie nach Haus".
- Dinggedichte
- Conrad Ferdinand Meyer: "Der römische Brunnen"
DER RÖMISCHE BRUNNEN
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
- Conrad
Ferdinand Meyer sah auf einer Italienreise 1858 die Fontana dei
Cavalli Marini in Rom. 1860 schrieb er die erste überlieferte Fassung
seines Gedichtes nieder, es folgten weitere Versionen bis zur 7.
Version von 1882, die heute allgemein bekannt und anerkannt ist. Schon
der Vergleich dieser Fassungen und die darin deutlich werdende
Entwicklung des Textes zu immer größerer Verknappung, Präzision und
Bildkraft ist ein ergiebiges Unterrichtsthema. Natürlich sollte auch
ein Bild des Brunnens gezeigt werden. Keine Angst vor einer
Profanisierung des Gedichtes durch Rückbezug auf den biographischen
Ursprung. Gerade der Arbeitsprozess an diesem Gedicht durch Meyer
zeigt ja, wie das Profane Ausgangspunkt der lyrischen Produktivität
ist. Passend ist hier ein Zitat von Edison: "Genius is one per cent
inspiration, ninety-nine per cent transpiration."
- Der
Aufbau des Gedichtes ist schlicht, jeweils zwei Zeilen umfassen ein
Thema, dabei sind die ersten drei Zeilenpaare den drei Brunnenschale
zugeordnet.
Das vierte Zeilenpaar fasst zusammen, was als Lehre des Gesamtbildes
formuliert werden kann: "jede nimmt und gibt zugleich". Ganz ähnlich
wie in barocker Emblematik und im barocken Lehrgedicht. Es kann z.B.
das Brunnengedicht von Martin Opitz zitiert werden, wo es am Ende
heißt "auff daß man wissen soll/Daß alle Frölichkeit sey Müh' und
Arbeit voll". Ein Satz, der mit dem Brunnengedicht Meyers zweifach
kommuniziert, bezogen auf das Gedicht und bezogen auf den
Arbeitsprozess Meyers für dieses Gedicht!
- Es
bietet sich an, den Schülern nach der Erörterung des Textes die
Aufgabe zu stellen, einen für sie besonders wichtigen, interessanten
oder bedeutsamen Gegenstand in einem Gedicht zu beschreiben, zu loben
oder vorzustellen. Es sollte ein Gegenstand sein, keine Pflanze und
kein Tier. Die Schüler sollten auch ein Foto des Gegenstandes machen
und sich das Gedicht nach einer bestimmten Zeit wieder vornehmen und
überarbeiten. Sieben Fassungen wären allerdings für den Unterricht
eine zu hoch gegriffene Aufgabe.
- Beispiel
einer Gedichtinterpretation im Unterricht DaF - Georg Trakl "Ein
Winterabend"
- Es
müssen nicht immer Goethe oder Brecht sein. Und nicht nur Texte der
unmittelbaren Gegenwart. Die Auseinandersetzung mit Georg Trakl bietet
sich im DaF-Unterricht aus verschiedenen Gründen an. Trakl gehört zum
einen bereits seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland zum
Kanon deutschsprachiger Lyrik. Zum anderen ist er uns zeitlich und
thematisch nahe als Autor der Industrialisierung und Verstädterung um
1900. Als Vertreter des Expressionismus ist er Teil einer Kunstepoche,
die vor allem in Deutschland und Österreich charakteristische
Ausprägungen fand, aber auch eine wichtige Verankerung im
französischen Symbolismus hatte und somit in der Beschäftigung damit
das Verständnis gemeinsamer europäischer Kulturprozesse fördern kann.
EIN WINTERABEND
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.
- Der
Text entstand im Dezember 1913 und kann seiner Thematik wegen im
Unterricht angeschlossen werden an die Beschäftigung mit dem deutschen
Festkalender, speziell mit dem Weihnachtsfest. Schnee fällt ans
Fenster, von "Abendglocken", einem bereiteten Tisch (Gabentisch?), dem
"Baum der Gnaden" und dem biblischen "Brot und Wein" ist die Rede.
Damit kann auch eine vertiefende Beschäftigung mit christlichen
Vorstellungen und Bräuchen verbunden werden, in fortgeschrittenen und
literarisch interessierten Gruppen darf auch Hölderlins Verwendung des
Bildes "Brot und Wein" einbezogen werden.
- Dezember
1913 - das ist auch ein halbes Jahr vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkrieges. Davon scheint das Gedicht gleichfalls zu wissen: "Schmerz
versteinerte die Schwelle". Trakl war Mitarbeiter des österreichischen
Militärs und unter Intellektuellen war die Erwartung eines großen
Krieges allgemein verbreitet. In den Zeitungen war seit der Annexion
der Länder Bosnien und Herzogewina durch Österreich-Ungarn 1908 von
der Gefahr eines umfassenden Krieges die Rede. Trakl wird auch gerne
als "Prophet" des ersten Weltkriegs präsentiert - dies kann mit dem
Verweis auf die politisch-intellektuellen Debatten der Zeit kritisch
eingeordnet werden.
- Allerdings
gibt das Gedicht keine weiteren Hinweise zum Themenkreis Krieg. Eher
scheint es um allgemeine menschliche Themen wir Einsamkeit,
Ausgeschlossensein und Erlösungshoffnung zu gehen. Dies sind Themen,
die Trakl immer wieder gestaltet und mit den hier in "Ein Winterabend"
dominierenden religiösen Motiven verbindet. Zur Kriegsthematik sollten
daher weitere Texte Trakls beigezogen werden, etwa "Grodek".
- Für
den DaF-Unterricht eignet sich der Text auch besonders durch seine
sprachliche Schlichtheit und Klarheit. Die meisten Verszeilen umfassen
einen ganzen Satz. Charakteristische Ausnahmen sind die Zeilen Drei
und Vier in der zweiten und dritten Strophe, an denen Sätze mit
komplexen Angaben exemplifiziert werden können. Die erste Verszeile
der zweiten Strophe gestaltet eine subtile Subjektposition zum
nachfolgenden Verbkomplex in Zeile Zwei. Hier lassen sich gut
grammatische Themen anschließen.
- Ingeborg
Bachmann: Reklame
REKLAME
Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
heiter
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille
eintritt
- 2015
gab es einen empörten Protest der Interessengemeinschaft
österreichischer Autorinnen und Autoren (IG Autorinnen Autoren) gegen
die Behandlung des Gedichtes "Reklame" im Kontext der österreichischen
Matura-Prüfung (diese entspricht der Abiturs-Prüfung in Deutschland).
Die Schüler sollten die inhaltlichen Ebenen des Gedichtes bestimmen,
den Zusammenhang zwischen Titel, Form und Inhalt erklären und die
Aktualität des Gedichtes vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen
mit der Werbe- und Konsumwelt beurteilen. Die IG kritisierte, dass der
Kunstwerk-Charakter des Gedichtes in der Aufgabenstellung ebenso
ignoriert werde wie jegliches Wissen zur Autorin, das über die reinen
Lebensdaten hinausginge.
- Nun,
hier befinden wir uns nicht im Kontext der Matura/des Abiturs,
sondern im Kontext der Fremdsprachenerwerbs. Ich erlaube mir daher,
Vorschläge zum Gedicht vorzubringen, die eher dem von der IG
kritisierten Ansatz entsprechen. Im übrigen bin ich der Auffassung,
dass Kunstwerke sich in der Auseinandersetzung mit ihnen - auch vor
dem Hintergrund eigener Anliegen und Erfahrungen - erschließen und
als solche erweisen. Und nicht, indem sie auf einen Sockel gestellt
werden.
- Das
Gedicht ist deutlich zweigeteilt, was von der Autorin auch
typographisch markiert wurde. Zeile für Zeile wechseln sich zwei
Reden ab, von denen die zweite, kursiv geschriebene, der ersten zu
antworten scheint. Die erste Rede, mit der das Gedicht beginnt,
könnte weitgehend für sich alleine gelesen werden - als trauriges,
anklagendes Gedicht mit Anklängen an den Beginn von Hölderlins
"Hälfte des Lebens". Die zweite verwendet wiederkehrende Formeln,
die Bachmann offenkundig der Reklamesprache zuordnet. Es macht Sinn,
mit den Lernenden die beiden Reden zu trennen, um die jeweiligen
Eigenarten, aber auch die Interaktionen der beiden Reden deutlicher
werden zu lassen.
- Die
beiden Reden können durchaus heuristisch sinnvoll getrennt
analysiert werden auf ihre Gehalte hin. Danach schlage ich vor, die
beiden Reden aufeinander zu beziehen, zu schauen, welche Teile der
einen Rede auf die andere reagieren. Dabei zeigt sich, dass dieses
Bezugsverhältnis nicht einseitig ist. Während die zweite Zeile auf
die erste zu reagieren scheint und die vierte auf die dritte, dreht
sich dann das Dialogverhältnis und auf das "sei ohne sorge" der
prima vista zu identifizierenden Reklamesprache reagiert die
Ausgangsrede mit "aber was sollen wir tun". Sie lässt sich auf diese
ein und zeigt damit auch ihre Gefährdung durch die "Reklame".
- Für
weitergehende Reflexionen und Informationen zu diesem Gedicht, die
Kunstwerkcharakter und Autorin gebührend berücksichtigen, verweise
ich auf meine Website
zu Ingeborg Bachmann.
- GEDICHTPRODUKTION
- "Creative
Writing" hat Konjunktur, das Beuyssche "Jeder Mensch ein Künstler"
macht auch vor den Schreibwerkstätten nicht halt. Im DaF-Unterricht
dürfen wir pragmatischer sein, die Bedeutung des schöpferischen
eigenen Schreibens etwas tiefer hängen und uns freuen über Produkte,
die den Spaß am Umgang mit der Fremdsprache erhalten oder neu finden
lassen. Künstlerisches Schreiben im strengen Sinn hat viel mit
Einschränkung und gezielter Arbeit zu tun - was gerne vergessen wird
im kreativen Überschwang. Die lyrische Arbeit mit einer Fremdsprache
kann uns dies wieder lehren. Ich persönlich habe es im DaF-Unterricht
als sehr anregend erfahren, ganz fokussiert und "arbeitsam" einzelne
Grammatik-Themen in Gedichten gestalten zu lassen. Die Lernenden haben
das meist sehr engagiert und mit Gewinn umgesetzt. Die Vorgaben waren
schlicht, etwa so: Ein Gedicht schreiben, das Verben nur im Präteritum
verwendet.
- Berühmte
Gedichte dieses Typus hat etwa Christian Morgenstern (1871-1914)
geschrieben. Sein Gedicht "Der Werwolf" ist in zahlreiche Anthologien
und auch in DaF-Lehrwerke vertreten. Kurt Schwitters (1887-1949), ein
Zeitgenosse Trakls (1887-1914), hat mehrere Texte verfasst, die sich
an grammatikalischen und semantischen Themen abarbeiten. So etwa das
Zahlengedicht "Zwölf" oder den Text "An Anna Blume", der u.a. die
Pronomina-Formen der zweiten Person Singular durchexerziert. Schönes
Material findet sich auch bei Ernst Jandl, etwa sein Text "lichtung"
mit der berühmten "Velwechsrung" von "lechts und rinks". Natürlich
hatten Morgenstern, Schwitters und Jandl andere Anliegen als Sprach-
oder Grammatikübungen zu gestalten. Doch dies gilt durchaus auch für
Deutschlernende, die in ihren Texten oft auch ein Thema bearbeiten,
das sie gerade beschäftigt, eingepackt in den Rahmen der
Gedichtproduktion. Gerade die Konzentration und bewußte Beschränkung
auf ein Grammatik- oder auch Semantik-Thema kann Kreativität
freisetzen und zu gültigen, auch fremden Lesern wichtigen oder
interessanten, Texten führen. Überdies kann sie Ausdruck erlauben für
sonst Verschwiegenes, das dem Schreibenden oder der Schreibenden
selbst auch persönlich weiter hilft, nicht nur im Spracherwerb.
- Nebenbei
sind durch diese Texte auch, sofern gewünscht, Gesprächsanlässe in der
Gruppe oder in der Zweierarbeit geschaffen. In der Korrektur sollte
behutsam verfahren werden. Es geht im Fremdsprachenunterricht nicht
darum, "Literatur" zu produzieren, also auch stilistisch zu
korrigieren, sondern die Sensibilität für Sprache zu schulen und die
Lust auf Sprache zu fördern. In der Arbeit mit fortgeschrittenen
Lernenden kann auch thematisiert werden, inwieweit "Fehler" einen Sinn
ergeben, den man gerne bewahren, nicht aus dem Weg korrigieren möchte
(verweisen kann man hier z.B. auf Schwitters' "Ich liebe Dir")
- Grammatikgedichte
zu den Verbformen
- 1.
Präsens
- Die
Gegenwartsform des Verbs, das Präsens, bietet sich schon für
Anfängergruppen an zur Gedichtproduktion. Die ersten Sätze, die den
Lernenden begegnen, benutzen diese Zeitform und lauten "ich heiße
...", "ich komme aus ...", "ich bin ...", "ich wohne in ...", "ich
esse gerne ...","ich gehe nach ...", "wie komme ich nach ...?", "wo
ist ...?" und ähnlich. Das ist wunderbares Material für kleine
lyrische Gebilde.
- Dass
es dabei auch sehr anspruchvoll werden kann, zeigt das Beispiel 1, in
welchem ein philosophisch gebildeter Lernender den Titel von
Heideggers berühmtem Werk "Sein und Zeit" zitiert und dann zwanglos
philosophische Fragestellungen in der Form elementarer
Übungssätze zum Gebrauch des Verbs "sein" in der ersten und der
dritten Person Singular Präsens durchexerziert. Dabei thematisiert der
Autor im Präsens auch die anderen Zeitdimensionen Zukunft und
Vergangenheit und macht damit klar, wie die Arbeit am Präsens uns sehr
zügig zu den anderen Zeitformen führt bzw. an die Grenzen des Präsens.
- Diese
Grenzen überschreitet dann das zweite Beispiel, ohne das Spiel mit der
Präsensform jedoch aufzugeben! Schon im Titel wird das "Ist" in den
Mittelpunkt gestellt, das Präsens der 3. Person Singular zum Grundverb
"sein". Gefragt wird auch hier nach dem, was Zeit ausmacht, wie wir
überhaupt die Gegenwart von der Vergangenheit und der Zukunft klar
trennen können. Gefragt wird konkret danach, ob das "Ist" nicht
eigentlich ein "War" sei, da es im Moment des Ausgesprochenwerdens
bereits vergangen sei - oder ob es gar ein "wird sein" sei und nur so
in die Gegenwart kommen könne.
- Scheinbar
mit den ersten Sätzen von Lernenden beschäftigt sich Beispiel Drei.
Doch die vermeintliche Schlichtheit ist hart erarbeitet, darüber darf
auch die bisweilen burschikose Wortwahl nicht hinwegtäuschen. In
Dreiergruppen gereiht werden hier Verben, die jeweils inhaltlich
zusammengehörig scheinen, uns jedoch rätseln lassen, was ihr
jeweiliges Gemeinsames sei. Der Bezug von "fahren", "gehen", "reisen"
ist auf Anhieb erkennbar, es geht um Fortbewegung. Aber dieser Bezug
ist hakelig, "reisen" gehört kategorial einer anderen Gruppe von
Verben an, ist enger verwandt mit "urlauben" als mit "gehen" und
"fahren".
- Dass
wir uns in diesem Text mit vorschnellen Kategorisierungen zurückhalten
müssen, zeigt gleich die erste Zeile. Hier werden "singen", "wohnen"
und "heißen" zusammengebracht - als sei "singen" eines der ersten
Verben, die Lernende gemeinsam mit "wohnen" und "heißen" (Angabe von
Namen und Wohnort) lernen sollten. Eine Aufwertung, die wir ganz
unterschiedlich deuten können. Sicherlich spielt das Singen im
Fremdsprachenerwerb eine wichtige Rolle, vielleicht wird darauf
angespielt. Es könnte aber auch ein Hinweis auf das Medium der
Äußerung sein, auf die ursprüngliche Bedeutung von "Lyrik" als Gesang.
Gänzlich problematisch wird das Organisationsprinzip der Verben in der
letzten Zeile. Wir kennen "biegen" und "brechen" aus der Idiomatik, wo
sie in "auf Biegen und Brechen" zusammen gebracht sind. Aber wie
kommen wir zu "schweigen" - und dies auch noch im Konjunktiv?
- Beispiel
1.1 - Dank an G.*
Sein und Zeit
Was ist die Zeit?
Ist die Zeit frei? Ist die Freiheit zeitlich?
Was ist die Freiheit?
Was bin ich?
Wie bin ich?
Wo bin ich?
Wo ist die Zeit?
Wo ist die Freiheit?
Die Vergangenheit ist nicht!
Die Gegenwart ist vergangen!
Die Zukunft ist noch nicht!
Also was ist die Zeit?
- Beispiel
1.2
Ist!
Ist das Ist ein Ist?
Oder ist das Ist ein War?
War gerade eben ein Ist?
Oder wird gleich ein Ist sein?
Oder wird es Ist gewesen sein, wenn das Ist vorbei ist?
Am Ende war es Ist gewesen ehe es begonnen hatte Ist zu sein?
Ist es gewesen? Ist es?
Ich bin. Du bist. B - ist.
Beispiel
1.3
Präsens
ich singe ich wohne ich heiße
ich esse ich trinke ich scheiße
ich fahre ich gehe ich reise
ich rieche ich schmecke ich beiße
ich höre ich sehe ich stehe
ich bringe ich kaufe ich gehe
ich lese ich schreibe ich liege
ich biege ich breche ich schwiege
- 2.
Präteritum
- Die
erzählende Vergangenheitsform des Verbs, Präteritum oder Imperfekt
genannt, führt uns in die Geschichte. Lernende nutzen diese Zeitform,
um auch aus der persönlichen Geschichte eine Erfahrung in betont
distanzierter, gleichsam historisch gereinigter Gestalt zu bearbeiten.
Damit werden selbst Begriffe wie der "scheißkerl" im ersten Beispiel
sprachlich einsetzbar, ohne brachial zu wirken - wie dies etwa im
Perfekt mit "er ist ein scheißkerl gewesen" der Fall wäre. Gelungen
ist hier auch, wie der klassische deutsche Märchenanfang "Es war
einmal" eingesetzt wird.
- Im
zweiten Beispiel werden wir in eine noch weitere Distanz geführt mit
einem gleichsam prototypischen Geschehen in historischen
Nachkriegssituationen. Das nachdrückliche Insistieren auf der
Präteritumform erzeugt hier eine merkwürdig schwebende Situation, die
auch als Traum verstanden werden kann. Denn wir fragen uns natürlich,
warum die Frau in ihrem Schreien nicht ins Präsens wechselt, also "Wer
ist denn der" fragt. Hier lässt sich mit den Lernenden auch sehr schön
im paradigmatischen Ersetzungsverfahren erproben, was semantisch
passiert, wenn wir einmal "war" gegen "ist" austauschen.
- In
der Temporalsemantik gilt das Präteritum als besonders flexible
Vergangenheitsform, die vielfältige Relevanzbeziehungen zur Gegenwart
ermöglicht. Wenn wir etwa fragen "Wie war Ihr Name?" gehen wir
natürlich nicht davon aus, dass der Gefragte inzwischen den Namen
geändert habe. Wir wollen vielmehr suggerieren, dass der andere sich
uns höflich vorgestellt habe, wir nur leider zu schusselig waren, uns
seinen Namen zu merken. Ähnliches geschieht, wenn der Kellner fragt
"Wer bekam die Suppe?".
- Goethes
"Die Leiden des jungen Werthers" endet mit "Handwerker trugen ihn.
Kein Geistlicher hat ihn begleitet.". Dieses Beispiel wird gerne
verwendet, um den semantischen Unterschied zwischen Perfekt- und
Präteritumgebrauch sinnfällig zu machen. Allerdings gibt Mathilde
Hennig in "Tempus und Temporalität in geschriebenen und gesprochenen
Texten", Tübingen 2000, S. 31, an, dass der sinnhafte Unterschied der
Zeitformen Präteritum und Perfekt im heutigen allgemeinen
Sprachempfinden nur noch rudimentär wahrgenommen werde.
- Beispiel
2.1 - Dank an I.G.*
es
war einmal - ein scheißkerl
er kam
und er gab
es war
wunderbar
wir liebten
und hielten
uns im arm
jede nacht.
die jahre vergingen
die blumen verblichen.
er ging
ich blieb.
ich weinte.
- Beispiel
2.2 - Dank an D.F.*
Der Soldat
Er kam und schlich sich durch das Gartentörchen.
Sie hängte ihre Wäsche auf und sang ein Liedchen.
Dann drehte sie sich um - und schrie:
Er war doch tot! Wer war denn der?
Da kam das Kind und lachte. Und er umarmte sie.
Beispiel
2.3
preisverleihung
sie kamen sahen siegten
ehe sie sich verliebten
was für ein starkes paar sie gaben
am dachfirst hausten bald die raben
die liebe war von kurzer dauer
die eifersucht lag auf der lauer
sie küssten und sie schlugen sich
und warfen steine hinter sich.
- 3.
Perfekt
- Die
dankbarste Zeitform in der Lyrikarbeit mit Deutschlernenden ist nach
meiner Erfahrung das Perfekt. Reichhaltige Möglichkeiten bietet diese
Zeitform schon auf formaler Ebene durch das Partizip Perfekt, das hier
eingesetzt wird, mit seiner für Lernende sehr reizvollen häufigsten
Ableitung durch die Vorsilbe ge- in ihren beiden Varianten regelmäßig
bzw. unregelmäßig (gekauft, gekommen). Die beiden Varianten der
Bildung mit den Verbformen von "sein" oder "haben" bietet ein
zusätzlich interessantes lyrisches Gestaltungsmittel.
- Die
Lernenden interessiert aber auch die inhaltliche Reichhaltigkeit
dieser Zeitform, die zwar von der Vergangenheit berichtet, aber dabei
durch die adjektivische Semantik des Partizips immer auch in die
Gegenwart hineinragt, von Konsequenzen und Ergebnisses etwas mitteilt.
Im Vergleich mit dem Präteritum fällt auf, dass die Lernenden hier
weit persönlicher, lebendiger schreiben. Für Lernende ist das Perfekt
sicherlich die weniger schwierige Verbform, da der Lernaufwand
geringer ist und das Gelernte (die Verbformen von "sein" und "haben"
sowie das Partizip Perfekt) vielfältig einsetzbar ist.
- Manche
deutsche Dialekte kommen weitgehend alleine mit dieser Zeitform für
vergangene Ereignisse aus - mit Unterstützung durch das formal
verwandte Plusquamperfekt. Das Schwäbische und Badensische etwa
kennen, vom Alemannischen her begründet, kein Präteritum/Imperfekt.
Die lateinische Benennung besagt schon etwas zur Semantik dieser
Zeitform: Sie benennt eine "perfekte", "abgeschlossene" Handlung. "Ich
bin gegangen" - das heißt, ich bin nun weg, "ich habe gegessen" - und
bin nun fertig mit essen bzw. satt. Während ich mit dem Bericht "ich
aß ..." den Blick ganz in der Vergangenheit habe. "Ich aß gerade zu
Mittag ..." - als der Postbote kam und ein wichtiges Telegramm
brachte. Das Geschehen wird als ablaufend angesehen, nicht als
abgeschlossen - daher, mit Bezug auf das "Perfekt", "Imperfekt".
- Beispiel
3.1 - Dank an A.G.P.*
Alleine
Allein bin ich aufgestanden
Allein hab ich gefrühstückt
Allein hab ich mich angezogen.
Ich alleine habe ihn geküsst.
Allein bin ich weggegangen
Allein habe ich gearbeitet
Allein bin ich zurückgekehrt
Allein habe ich zu Abend gegessen.
Ich bin alleine zu Bett gegangen
Und habe auf ihn gewartet.
- Beispiel
3.2 - Dank an D.F.F.*
Schulanfang
Habe die ganze Nacht kaum geschlafen
Habe gezittert und nichts gegessen
Habe noch mal den Text hergesagt
Habe Blut und Wasser geschwitzt
Habe wie ein Automat im Auto gesessen.
Bin viel zu früh angekommen
Bin dann dem Schulleiter gefolgt.
Schon habe ich vor ihnen gestanden
Habe die zahlreichen Köpfe nicht unterscheiden können
Habe noch gehört, wie man die Tür zugemacht hat
Habe am Fenster tief durchgeatmet
Habe meine erste Stunde gegeben,
gelächelt, gefragt, geantwortet,
erklärt, gelacht, geschimpft.
Habe den Kontakt mit den Schülern schätzen gelernt und seither
Jeden September Lampenfieber.
Kann nichts dagegen machen
Will aber weiter machen.
- Beispiel
3.3 - Dank an F.T.*
Mister Perfekt
Ich habe versucht, was zu sagen.
Ich habe nichts gesagt.
Ich habe versucht zu lächeln.
Es hat nichts genutzt.
Er ist einfach weggegangen.
Endlich hatte er eine gute Idee gehabt.
- Beispiel
3.4 - Dank an L.F.*
Märchenhaft
Rotkäppchen hat den Wolf gefressen
Großmutter hat daneben gesessen.
Die Alten haben den Jungen was vorgekaut
Die Jungen haben selten nachgeschaut.
Rom wurde doch an einem Tag erbaut
Romulus und Remus haben die Wölfin verdaut.
- Beispiel
3.5 - Dank an F.*
GRAUSAMKEIT
Ich habe dir eine Blume gebracht - und
ohne Wasser hast du sie gelassen!
Ich habe dir eine Schwalbe gebracht - und
die Augen hast du ihr ausgerissen!
Ich habe dir eine Katze gebracht - und
im Winter hast du sie aufgegessen!
Ich habe dir mein Herz gebracht - und
in die Kloschüssel hast du es geworfen!
- 4.
Futur
- Das Futur stellt an
die Lernenden keine sonderlich hohen Anforderungen, wird es doch mit
Hilfe des Infinitivs gebildet bzw., als Futur zwei, mit einer
Inversion des Perfekts. Im pragmatisch orientierten
Fremdsprachenunterricht wird es dennoch erst spät oder gar nicht
vermittelt. Denn es gibt für den Alltagsgebrauch einfache
präsentische Ersatzformen - durch die Verwendung von Zeitangaben
("ich komme morgen").
- Mit dem Futur sollte
man Anfängergruppen in der Gedichtprokution eher nicht
konfrontieren, die Ergebnisse sind meist wenig befriedigend für die
Lernenden, auch da wo die grammatisch elaborierten Formen des Futurs
grundsätzlich bekannt sind. In der Regel fehlt eben die Übung. Aber
gerade bei dieser Aufgabe können mit Fortgeschrittenen, etwa
Deutschlehrern aus dem Ausland, äußerst reizvolle Texte entstehen.
Aktuelle politische Themen wie Nachhaltigkeit,
Klimaerwärmung/Klimaschutz, Ressourcenverknappung etc. bieten sich
natürlich besonders an für den Gebrauch dieser Zeitform.
- Im ersten Beispiel
wird ein Spaziergang unternommen von der Gegenwart immer weiter in
die Zukunft, mit erinnerndem Rückbezug, der uns im letzten Satz sehr
gelungen wieder in die Gegenwart hievt - was im Titel bereits
konzeptionell angedeutet wird. "Vorfreude" ist kein schlechtes
Konzept, um sich der Zukunft - auch in grammatikalischen Übungen -
zuzuwenden. Das zweite Beispiel arbeitet mit mit äußerster
Schlichtheit die Tiefenschichten der alltagssprachlichen Mahnung "du
wirst schon sehen!" heraus. Die Beispiele Drei und Vier wenden sich
politischen Zukunftsthemen zu, wobei das im Beispiel Drei eher
spielerisch, etwas unverbindlich geschieht. Das Beispiel Vier
konfrontiert uns dann mit sehr konkreten Aussagen, auch wenn der
Gedichttitel anderes suggeriert, uns auf Glatteis führt. Die Arbeit
mit dem Futur II am Ende wirkt etwas maniriert - ein Zug, der dieser
Zeitform schon per se anhaftet.
- Beispiel 4.1
Vorfreude
Heute ging es nicht, aber
morgen werde ich kommen.
Wenn ich nicht morgen komme,
werde ich übermorgen kommen.
Und wenn ich gekommen sein werde,
werde ich mich an heute erinnern.
Darauf freu ich mich schon!
- Beispiel 4.2
Wir werden sehen
Wir werden sehen und
ihr werdet schon sehen!
Wir werden sehen,
was wir sehen werden.
Ihr auch. Aber werdet ihr auch
verstehen, was ihr sehen werdet?
- Beispiel 4.3
Futuristisches Sonett
Wir werden bei den Sternen bauen
Wo die Planetenbahnen ziehen
Wo die Asteroiden blühen
Werden wir breite Straßen reinhauen.
Ich werde uns dort eine Schule bauen
Da werden alle alles lernen
Und wenn einer meckern wird, schicken wir ihn zu den Sternen
Da wird er dann den Mond anschauen.
Wir werden klug und werden froh
Wie der Mops im Bungalo
Es gibt keinen Rektor und keine Polizei
Wir kochen Spaghetti und Apfelbrei
Und neben die Schule bauen wir einen Zoo
Da leben die Verben auf dem Affenklo.
Beispiel 4.4
Science Fiction
Wir werden zu viele
Fische gefangen
zu viele Häuser gebaut und Straßen
und zu wenige Gärten angelegt und
Wiesen zum Blühen gebracht
haben.
und wir werden
gegrillt, geröstet, verhungert und verdurstet
sein, wenn
wir nicht anders werden
als wir geworden sein werden
wenn wir uns nicht geändert haben werden.
- 5.
Partizip Perfekt
- Unabhängig von den
Zeitformen des Verbs ist die lyrische Arbeit mit dem Partizip
Perfekt (Partizip II) eine interessante Gestaltungsaufgabe. Meist
werden die Lernenden dabei zum Einsatz in der Zeitform Perfekt
greifen (siehe Punkt 3). Auffallend ist für mich, dass dabei gerne
die verkürzte Form ohne Hilfsverb verwendet wird. Auch die Arbeit
mit dem adjektivischen Gehalt wird häufig gewählt. Beides entspricht
der Neigung, in Gedichten zu möglichst knappen Ausdrucksweisen zu
greifen. Auch wenn die Heideggersche Ableitung des "Dichtens" von
"Verdichten" falsch ist, ist die Ellipse ein durchgängiges
Gestaltungsmerkmal von Lyrik. Dafür bietet sich das Partizip Perfekt
in ausgezeichneter Weise an.
- "Der geklaute Koffer"
arbeitet in gekonnter Weise mit der Doppelgesichtigkeit des Partizip
Perfekt als Element verbal-zeitlicher und adjektivischer Formeln.
Während im Titel noch klar von einer Eigenschaft des Koffers die
Rede ist, wird gleich in der ersten Gedichtzeile fraglich, ob das
Partizip Perfekt in "gut gelandet" verbal-elliptisch im Sinne von
"wir sind gut gelandet" zu verstehen sei oder adjektivisch-adverbial
in Analogie zum "gut gelaunt" der zweiten Strophe. "ausflug!"
vermeidet im Titel das Partizip Perfekt "ausgeflogen" und macht
damit die nachfolgende Kettung von Partizipien umso wirksamer. Der
Titel markiert mit seinem Ausrufezeichen zugleich die Funktion des
Partizip Perfekt als Imperativersatz ("stillgestanden!"). In seiner
Schlichtheit zeigt dieser Text wie auch der folgende mit dem Titel
"Doof aber angenehm", dass auch kurze und ohne besonderen
literarischen Anspruch auftretende Texte interessante Gehalte
transportieren können und mehr sind als bloße Schreibübungen.
- Das letzte Beispiel
formuliert seinen Anspruch bereits im Titel, der ganz anders klingt
als die Titel davor, mit "Resignation" einen elaborierten Sprachstil
ankündigt, der dann in gewählten Bildern die ganze Fülle des
Partizip Perfekt ausbreitet, der zwischen "geboren" und "gestorben"
ein ganzes Leben in Geschichte verwandeln kann. Bieder kennen wir
dies aus Lebensläufen, lyrisch aufregender begegnet diese Dimension
des Partizip Perfekt im vorliegenden Beispiel.
- Beispiel
5.1
Der geklaute Koffer
Gut gelandet
den Flieger verlassen.
Gut gelaunt
am Förderband angestellt.
Koffer gekommen
runtergenommen.
Kurz weggeschaut.
Koffer geklaut.
Ausgespäht
Wo er steht.
Da hinten ist einer
mit ihm weggegangen.
Hinterhergerannt
Da ruft jemand vom Band:
"Der sieht genau so aus"
Zurückgeschaut und erkannt:
Hab nur den Koffer verwechselt!
Kaffee getrunken und Geld gewechselt.
- Beispiel
5.2 - Dank an S.C.*
ausflug!
abgereist, angereist, untergebracht
gefuttert, gewurstelt, gekäst
getrunken, betrunken, besoffen.
vor sich geflohen, weggerannt und ausgezogen
und nicht mehr zurückgekommen.
- Beispiel
5.3 - Dank an F.T.*
Doof aber angenehm
Gegessen.
Zu viel getrunken.
Ein bisschen geplaudert.
Ferngesehen.
Vor dem Fernseher eingeschlafen.
Das war angenehm.
- Beispiel
5.4
Resignation
Gestohlene Bücher
hinter verschlossenen Türen
Gesungene Lieder
aus verschwundenen Noten
Gelebte Leben
in verklebten Bildern
Im Mausoleum der Vergangenheit
eingeschlafene Träume
Eingeschrieben
zwischen geschlossenen Ohren
- 6.
Partizip Präsens
- Inhaltlich
weniger gehaltvoll als das Partizip Perfekt ist das Partizip Präsens,
das lediglich adjektivisch oder adverbial einzusetzen ist. Das
Partizip Perfekt hat bereits eine deutliche Affinität zum
distanzierten Sprechen, die sich etwa in Lebenslaufformulierungen
prägnant realisiert. Beim Partizip Präsens ist diese Tendenz noch
stärker ausgeprägt und es kann paradigmatisch für den "trockenen" Ton
stehen, der dem Deutschen nachgesagt wird. Und dies nicht erst seit
seinem gehäuften substantivierten Einsatz in Gender-neutraler Sprache
("Lernende", "Lehrende", "Studierende", "Arbeitende", "Besuchende"
etc.). Merkwürdigerweise kommt dem Englischen für die gleiche Verbform
dies nicht zu, wie etwa der Vergleich von "singin' in the rain" mit
"singend im Regen" zeigt. Das Partizip Präsens erlaubt und ermöglicht
eine äußerste Reduktion der Sprache und gewinnt dadurch auch
spezifisch lyrische Einsatzmöglichkeiten - auch wenn, wie oben bereits
angemerkt, "dichten" etymologisch nichts mit "verdichten" zu tun hat.
Gemeinsam mit dem Partizip Perfekt ergeben sich besonders reizvolle
Spielmöglichkeiten, wie das dritte Beispiel zeigt.
- Das
erste Beispiel knüpft an ein Weihnachtslied an und entwickelt aus
einem besinnlichen Kontext eine kleine Katastrophe, die bereits
klischeehaft zum Weihnachtsfest gehört: der brennende Weihnachtsbaum.
Der lyrische Gehalt tritt deutlich zurück hinter den humoristischen
Effekt, der hier gezielt erzeugt wird. Auch Beispiel Zwei arbeitet
vorwiegend mit unterhaltenden Effekten und gerät deutlich in die Nähe
des Kalauer. Es zeigt damit ein Risiko lyrischer Arbeit mit Lernenden,
dass nämlich bloße Spracheffekte erzeugt werden. Das kann durchaus
didaktisch genutzt werden zu einem Exkurs über die Unterschiede
zwischen einem Kalauer und einem Gedicht. Dabei muss allerdings
akzeptiert werden, dass der Lerneffekt und der Spaß an der Arbeit mit
Sprache bei unseren Übungen im Vordergrund steht - nicht der lyrische
Anspruch, mit dem zurückhaltend und reflektiert umgegangen werden
sollte.
- Im
zweiten Beispiel wird mit augenzwinkerndem erotischem Unterton das
Spannungsfeld zwischen "drückend" und "lösend" erörtert. Goethes
"jenes bedrängt, dieses erfrischt" in seinem Gedicht zum "Atemholen"
klingt an. Ein Paar macht sich offensichtlich zum Ausgehen bereit,
aber der Mann kommt mit seinen zu engen - wir vermuten: hochmodischen
- Schuhen nicht zurecht und hat auch mit dem Krawattenbinden Probleme.
Da entscheidet die Frau, auf das Ausgehen zu verzichten. Auch das
nachfolgende Beispiel handelt von einem Paar - allerdings in der
entgegengesetzten Situation, nach der Trennung. Auch hier wird die
Handlung von der Frau vorangetrieben, mit dem Partizip Präsens als
Mittel des besonderen Nachdrucks adverbial eingesetzt. Die Handlung
liegt nun in der Vergangenheit, Partizip Perfekt und Partizip Präsens
werden gemeinsam eingesetzt und erzeugen im Zusammenspiel eine
intensive, dramatische Stimmung. Kritisch mag man anmerken, dass hier
zu viel Pathos mitschwingt. Doch darin liegt gerade ein Reiz der
Verbindung unserer beiden Partizipformen.
- Beispiel
6.1
weihnachtslied
singende, klingende weihnachtszeit
wie tut es mir um den brennenden weihnachtsbaum leid
im ofen steht die bratende bratente bereit
leider haben die löschenden gäste zum essen keine zeit
sie bekämpfen mit tropfenden eimern das feuer
derweil wird die ente zum rauchenden ungeheuer
die feuerwehr kommt mit lärmenden signalen
der hausherr empfängt sie mit rutschenden sandalen
aus der küche dringt nun beißender qualm
aus dem wohnzimmer klingt es "o tannenbaum"
- Beispiel
6.2
Ausgehfertig
Der drückende Schuh
gibt keine Ruh.
Die schaukelnde Krawatte
sieht aus wie ne Ratte.
Ich sollte die Füße
mit Lappen umwinden
und mir die Krawatte nach hinten binden.
Da rufst lachend du
mach die Augen zu!
Die Krawatte fassend
machst du die Schuhe passend.
Und auf der nachwippenden Matte
trinken wir Caffelàtte.
- Beispiel
6.3
Leidende Liebe
Ich habe schreiend geweint
und weinend geschrien,
dann hab ich dir weinend einen glühenden Brief geschrieben
von deinem mich immer betrügenden Lieben!
Liebend hast du mir das Lieben verdorben,
nun wäre ich liebend gerne gestorben.
Aber das klingelnde Telefon hat mich gerettet,
dein bester Freund war dran, du hast dich verwettet!
- 7.
Passiv
- Die Passivform
profitiert erheblich von den Gestaltungsmöglichkeiten, die das
Partizip Perfekt bietet. In lyrischen Texten wirkt sie allerdings
rasch ermüdend durch ihre formale Einfachheit, die in Iterationen
auch bedrängend wirken kann. Das Passiv wird gebildet mit den
Personalformen von "werden" und dem unflektierten Partizip Perfekt.
Grammatikalisch korrekt kann dies nur mit transitiven Verben oder
Tätigkeitsverben geschehen. Literarisch bzw. in erweiterter
Bedeutung ist allerdings auch anderes möglich, etwa in "es muss
gestorben werden", dem lateinischen "moriendum esse" nachgebildet,
dem wörtlich "es muss gestorben sein" entspricht. Im Lateinischen
hat das Partizip Perfekt für sich bereits die Funktion des Passiv -
was im Deutschen auch möglich ist, allerdings wird die Konstruktion
dann als elliptisch empfunden, wie im ersten Beispiel in der zweiten
und in der letzten Strophe.
- Trotz der
inhaltlichen Spannweite zwischen "ich werde geliebt" und "ich werde
geschlagen" neigt die Passivverwendung zu negativen Gehalten. Diesen
"schwarzen" Ton des Passiv entwickelt eindrücklich das erste
Beispiel. In der Überschrift wird die enge Verbindung des Partizip
Perfekt zum Passiv subtil markiert durch die Verwendung des Verbs
"werden" in der Form des Partizip Perfekt. Dem Spruch der
Studentenbewegung, "Geschichte wird gemacht", steht hier eine eher
resignative Haltung zur Geschichte gegenüber. Im zweiten Beispiel
sehen wir, wie in den unpersönlichen Passivbildungen gerade ein
persönlicher Ton entstehen kann, der dem Passiv sein Schwergewicht
nimmt, aber sein kritisches Potential erhält. Mit der Ambivalenz von
"geliebt werden" und ähnlichen Fügungen, in denen Wechselseitigkeit
das Ideal ist, arbeitet das dritte Beispiel. Hier wird auch das im
Passiv als Hilfsverb eingesetzte "werden" auf seine Ambivalenzen hin
befragt, schwebend zwischen dem starken Gehalt des Vollverbs,
insbesondere in philosophischen Kontexten, und dem passivischen
Gehalt als Hilfsverb.
- Beispiel 7.1
Gewordene Geschichte
Wann wurde je gewachsen
Geschnitten wurde viel.
Gemordet und gemetzelt
Kam mancher an sein Ziel.
Wer werden möchte wird gehindert
Wer wird, wird oft geworden sein:
Geschlagen und gefoltert
Geschunden bis aufs Bein.
- Beispiel 7.2
Aktiv-Passiv
Hier wird gebaut
Hier wird geschaut
Dort wird gegessen
Dort wird vergessen
Da wird gepflanzt
Da wird getanzt
- Beispiel 7.3
geliebt werden
geliebt
werden
mehr geliebt
werden
gehalten
werden
um mehr
zu werden
um selbst
zu lieben
mehr
zu lieben
geliebt
zu lieben
- 8.
Konjunktiv
- Der Konjunktiv ist
zwar eine anspruchsvolle Verbform, dennoch kann auch im
DaF-Unterricht erfolgreich spielerisch damit gearbeitet werden.
Seine Funktion, Ungewissheiten, Wünsche, Wahrscheinlichkeiten zu
benennen, prädestiniert ihn in den Händen von Laien für die
Lyrikproduktion. Denn gerade dies soll Lyrik im populären
Verständnis ja - unter anderem - leisten: Träume, Sehnsüchte,
Wunschvorstellungen artikulieren. Lyrik könnten wir auch mit gutem
Recht die Kunstform des "Als Ob" nennen. Hans-Henrik Krummacher hat
ein aufschlussreiches Werk über das explizite "als ob" in der Lyrik
- von der Romantik bis zu Rainer Maria Rilke - geschrieben. Dem
Konjunktiv gilt dabei selbstredend besondere Aufmerksamkeit. "Die
Entwicklung der 'als ob'-Figuren (...) findet ihre Erfüllung erst
bei Eichendorff" (Krummacher 1965, S. 55). Krummacher präsentiert
als ersten Beispieltext seiner Arbeit die bekannte Eingangsstrophe
aus Eichendorffs Gedicht "Mondnacht":
- Es war, als hätt'
der Himmel
- Die Erde still
geküsst,
- Daß sie im
Blütenschimmer
- Von ihm nun träumen
müßt'.
- Mit diesem Text, 1837
veröffentlicht, markiert der Autor seine Abkehr von den politischen
und gesellschaftlichen Umbrüchen seiner Zeit, den Rückzug in eine
Welt des Konjunktivs, vermeintlich heil in den schönen Naturbildern
der zweiten Strophe, die doch nur statuiert sind, unwirklich wie die
Wälder aus Eichendorffs Kindheit, die von der Mutter zum Kahlschlag
verkauft worden waren, um die Schulden der Familie zu bezahlen. Nebenbei gestaltet
Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857) in der ersten Strophe
von "Mondnacht" eine modellhafte säkulare Variante des Hieros gamos.
- Ein Gründungsdokument
der Lyrik in unserem Kulturraum, Francesco Petrarcas "Il
Canzoniere", hebt an im ersten Sonett mit dem Wunsch an das
Publikum, "ove sia chi per prova intenda amore". Nun sind
Fremdsprachenlernende sicherlich fern der Möglichkeiten eines
Eichendorff oder Petrarca. Aber gerade bei den Schwierigkeiten, die
der Gebrauch des Konjunktivs oft (auch Muttersprachlern, nebenbei
gesagt) bereitet, lohnt es sich, dieses sprachliche Ausdrucksmittel
spielerisch in lyrischen Texten zu erproben.
- Ich fand es im
Unterricht sehr hilfreich, die Konjunktiv-Gedichte an fiktive
Figuren zu binden, etwa den "Hätterich", den "Wollterich", die
"Sollterine", die "Würderin", das "Mögerlein" oder das "Könntchen".
Andere Varianten, auch geschlechtlich über Kreuz (der "Würderich",
die "Hätterin"), ad libitum. Solche Figuren schaffen eine
spielerische Rahmensituation, die es leichter macht, die Scheu vor
der komplizierten Sprachform des Konjunktiv zu überwinden. Bewährt
haben sich auch Fortsetzungsgedichte zum Anfang "Wenn ich
(Konjunktiv II)" mit der Auflage, alle Personalformen zu verwenden.
Der Hätterich (Tristan)
Hätt' ich können wie ich wollte
Wär ich weiter als ich sollte.
Hätt' ich dürfen wie ich müsste
wär ich klüger als ich wüsste.
Wüsste ich wie man dich küsste
hätt' ich's schon getan, Isolde.
Beispiel 8.2
Die Sollterine
Sollte ich den Apfel schälen?
Oder lieber mich noch quälen
Mit dem Schaben an der Schale?
Sollt' ich Schokolade essen?
Oder Kalorien messen
Mit dem Ohr an meinem Magen?
Äße ich sie vor dem Schälen
Schälte ich ihn vor dem Zählen
Würde ich mich nicht so stressen.
Beispiel 8.3
Das Könntchen
Wenn ich wollte
könnte ich.
Wenn ich sollte
schmollte ich.
Wenn ich käme
ginge ich.
Beispiel 8.4
Wenn ich ...
Wenn ich sänge, könntest du zuhören.
Wenn du zuhörtest, könnte er einkaufen gehen.
Wenn er einkaufte, könnten wir kochen.
Wenn wir kochten, könntet ihr mitessen.
Wenn ihr mitäßet, würde ich singen -
nur für euch!
- 9.
Infinitiv
In systematischer
Ordnung - etwa in Grammatiken - steht der Infinitiv bei den Verbformen
ganz zu Beginn. In der heutigen Praxis des Fremdsprachenunterrichts
ist der Infinitiv eine der später erworbenen/gelernten Verbformen, da
sie im Anfängeralltag zunächst nachrangig ist und zudem äußerst
anspruchsvoll, da sie in ganz unterschiedlichen Kontexten eingesetzt
werden kann, als Form des Lexikoneintrags für das Verb (singen), als
Substantiv (Singen), mit dem Ersatzkonjunktiv (ich würde gerne
singen), in der Wunschäußerung (ich möchte singen), im Futur (ich
werde singen). Dem Anfänger jedoch begegnet das Verb zunächst in
flektierten (markierten) Formen (ich heiße ...).
Um sinnvolle, inspirierende lyrische Texte mit dem Infinitiv zu
erarbeiten, muss der Wortschatz bereits reichhaltig sein und die
Grammatik einigermaßen beherrscht werden. Daher stelle ich den
Infinitiv hier an das Ende meiner Vorschläge für die Lyrikproduktion
im Deutschlerner-Unterricht anhand von Grammatik-Phänomenen. Als
weitere Vorgabe kann etwa gemacht werden, dass nur mit einem Verb
gearbeitet wird (erstes Beispiel), dass drei Dreizeiler gemacht
werden, die von jeweils drei Verben dominiert sind (zweites Beispiel)
oder dass eine Assoziationskette gemacht wird, deren Anfang und Ende
identisch sind (drittes Beispiel).
Wie hier mit geringsten Mitteln starke Aussagen gestaltet werden
können, zeigt gleich das erste Beispiel mit der engsten Vorgabe. Hier
wird subtil mit dem "Anfänger-Fehler", immer den Infinitiv zu
verwenden statt flektierter Verbformen, gearbeitet. Ein Fehler, der
nicht nur den Lernenden, sondern auch den Sprachvorbildern anzulasten
ist, die mit Anfängern noch immer häufig den Infinitiv verwenden. Die
formale Identität von Infinitiv und erster Person Plural wird dabei in
der letzten Zeile eingesetzt, um den "Anfänger" zu rehabilitieren und
eine interessante Schlusspointe zu gestalten.
Beispiel 9.1
brauchen
ich brauchen pass
ich brauchen spaß
ich brauchen essen
ich brauchen handy
ich brauchen freunde
ich brauchen haus
ich brauchen mich
ich brauchen dich
ich brauchen euch
wir brauchen uns
Beispiel 9.2
ein durchgang
gehen
stehen
sehen
winken
rufen
kommen
reden
trinken
singen
gehen
Beispiel 9.3
Infinitiv
sitzen stehen fahren
kaufen zahlen tragen
parken packen fahren
stehen fahren sitzen
impfen trinken wiegen
sinken winken siegen
fahren sitzen stehen
leben reden streben
heben fegen legen
* Die mit Asterisk vermerkten Reverenzen (und Referenzen) beziehen
sich auf TeilnehmerInnen eines Deutschlehrerkurses Mitte der 80er
Jahre in Tübingen, den ich angeleitet habe. Dieser Kurs war die
Initialzündung für meine Gedichtarbeit im Deutschunterricht.
- Grammatikgedichte
zu den Adjektiven
1.
Adjektivitis
Verbreitet galt im
20. Jahrhundert in der Journalisten-Ausbildung das Gebot,
Substantive mit interessanten Adjektiven zu versehen, um Texte
anschaulicher und lebendiger zu machen. Die Leidenschaft für das
Adjektiv durchdrang bald die ganze Gesellschaft, auch dank der
Werbungssprache. Und so wurde aus dem "Elternhaus" das "elterliche
Haus", aus der "Schule" der "schulische Bereich" und aus dem "Beruf"
das "berufliche Leben". Am 10. Mai 2012 forderte Wolf Schneider in
der ZEIT daher genervt: "Geizen wir mit Adjektiven". Nebenbei eine
Forderung, die der gelegentlich als Sprachpurist verschrieene
Sprachwissenschaftler Eduard Engel bereits in seiner "Deutschen
Stilkunst" von 1911 erhob. Aufgegriffen wurde Engels Arbeit von
Ludwig Reiners, dessen Publikation "Stilkunst" von 1944 in
erheblichem Umfang die "Deutsche Stilkunst" zur Grundlage hat.
Heute wird von der Journalistenausbildung bis zum
Schriftstellerseminar nachdrücklich vor der "Adjektivitis" gewarnt.
Im Deutschunterricht dürfen wir diese aber schon mal fröhlich
ausleben - und dabei auf Thomas Mann verweisen, der seinen "Doktor
Faustus" mit einem lange sich windenden Satz beginnen lässt, der den
Adrian Leverkühn gleich mit sechs Adjektiven versehen vorstellt.
Zitiert werden kann auch aus Albert Camus' "Die Pest" ein Satz der
Romanfigur Grand, Autor mit Schreibblockade, der unter großer
Anstrengung als Beginn eines geplanten Romanes notiert wird: "An
einem schönen Maimorgen ritt eine schlanke Amazone auf einer
herrlichen Fuchsstute durch die blühenden Alleen des Bois de
Boulogne."
Wie spartanisch
dagegen kommt der Anfang von Dostojewskijs Roman "Der Idiot" daher:
"Ende November bei Tauwetter gegen neun Uhr morgens eilte der
Eisenbahnzug Warschau-Petersburg mit Volldampf seinem Endziel
entgegen." Was nicht heißt, dass Dostojewskij keine Adjektive
verwendete. Doch setzt er sie kontrolliert und in steter Abwechslung
mit verbalen Beschreibungen ein. Da folgt auf "graue kleine, aber
feurige Augen" eine Nase, die "war breit und platt", und "die
Backenknochen traten stark hervor".
Die Frage nach dem
Umgang mit Adjektiven kann einen hilfreichen Zugang zu literarischen
Werken bieten, der gerade für den Fremdsprachenunterricht relevant
ist und nicht nur literarisch, sondern auch sprachlernend
bereichert. Schauen wir uns den Beginn von Thomas Manns Zauberberg
an, so finden wir gleich zu Beginn einen "einfachen jungen
Menschen", der eine "weite Reise" für einen "kurzen Aufenthalt"
hinter sich hat. Schlichter geht es kaum und wir werden eingestimmt
auf eine ganz normale, ganz banale Geschichte, von der wir
allerdings wissen, das sie keineswegs einfach und banal verlaufen
wird, sondern höchst komplex, verwirrend und mit tödlichem Ausgang.
Darauf verweist uns dann auch gleich auf der ersten Seite ein
Adjektiv, das grell absticht gegenüber der Schlichtheit des Beginns.
Eine "krokodilslederne Handtasche" trägt dieser "einfache junge
Mensch" mit sich.
Bei Robert Musil
klingt es zum Beginn von "Der Mann ohne Eigenschaften" ganz anders.
Mit den Eigenschaften sind zwar die Adjektive nicht verschwunden,
aber welcher Art sind sie! Da folgen einander auf der ersten Seite
ein "barometrisches Minimum", ein "lagerndes Maximum", ein
"ordnungsgemäßes Verhältnis" und eine "mittlere Jahrestemperatur"
mit technisch-bürokratischen Eigenschaftswörtern. Wir befinden uns
im Bereich der Naturwissenschaften, genauer: der Meteorologie. Und
als die ersten Menschen auftauchen, sind diese eingeordnet in die
Beschreibung des Verkehrs auf den Straßen, "die beiden Menschen, die
darin eine breite, belebte Straße hinaufgingen". Und beschrieben
werden sie dann damit, dass sie "die Anfangsbuchstaben ihrer Namen
bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt" trugen. Der nächste Mensch wird
beschrieben als "grau wie Packpapier", ein vorangestelltes Adjektiv
erhält auch er nicht, er ist "der Lenker" eines Lastwagens, der
gerade einen unachtsamen Passanten überfahren hat.
Beispiel 1.1
Ein schwarzer Kaffee
Ein schwarzer Kaffee vertreibt Kummer und Sorgen.
Einem bösen Menschen sollte man nichts borgen.
Ein sonniges Gemüt bringt gutes Gelingen!
Wer fröhliche Laune hat darf lautstark singen.
Wird grau das Gemüt von Betrug und Lug
Nimm einfach am Bahnsteig den nächsten Zug.
Beispiel 1.2
Ein blaues Blau
Ein blaues Blau wohnte in einem stattlichen Bau
Ehelich verheiratet war es mit einer femininen Frau.
Die Frau war von gelblichem Gelb, welch gräuliches Grau
Drohte den Kindern aus diesem ehelichen Gau.
Da lief dem Blau die Bläue aus
Das Gelb erbleichte im Hinterhaus
Und die Kinder kamen schwarz-weiß heraus.
- 2.
Komparativ, Superlativ
Die Steigerung im
Deutschen mit den Formen Komparativ und Superlativ bietet sehr einfach
zu handhabende Mittel, Texte von großer Wirkung zu produzieren. Davon
profitiert z.B. die Werbung, die aus verständlichen Gründen lange dem
Superlativ huldigte. Im Unterricht kann das Thema Steigerung gut an
Werbungstexten vertieft werden - auch wenn avancierte Werbung heute
weitgehend auf den Superlativ verzichtet. Es liegt dann nahe, auch
entsprechende Übungen zur Textproduktion zu machen.
Die Steigerungsformen unterscheiden sich in den verschiedenen Sprachen
teilweise erheblich und zeigen sprachenspezifisch unterschiedliche
Weisen, die Wirklichkeit zu organisieren. Im Deutschen haben wir eine
klare Unterscheidung in Komparativ ("schneller") und Superlativ ("am
schnellsten"). Im Italienischen finden wir eine Steigerungsform mit
"più", die sowohl den Komparativ ("più bello che ..."), als auch den
(relativen) Superlativ ("la città più bella d'Italia") markiert. Der
absolute Superlativ im Italienischen ist wie der deutsche Superlativ
gebildet: "bellissimo" - er hat allerdings zumeist eher die Bedeutung
von "sehr ...". Im Englischen haben wir Steigerungsformen ohne
Hilfswort ("prettier", "prettiest") neben Steigerungsformen mit
Hilfswort ("more beautiful", "most beautiful") - wobei die Silbenzahl
und die Endung des Verbs mit darüber entscheiden, welche wir
verwenden. Bei der Arbeit mit Steigerungsformen sollte daher stets
auch auf die Herkunftssprachen der Lernenden reflektiert werden.
Zum ersten Beispiel lautet die Vorgabe, einen Werbungstext für
Schokolade zu schreiben. Auch andere Texte von Lernenden, die mit der
Vorgabe "Steigerung" arbeiten, doch ohne die Orientierung auf Werbung,
reiben sich häufig an Werbungstexten und beziehen daraus einen Teil
ihrer Wirkung. Dass es dabei zu ganz eigenständigen Texten kommen
kann, die der Werbung mit ihren eigenen Mitteln ein Schnippchen
schlagen, zeigt das zweite Beispiel. Scharfe Sozialkritik formuliert
das dritte Beispiel, das die Sucht unserer Gesellschaft nach dem
konkurrenzhaften Vergleich und dem Übertrumpfen auf einem
philosophisch ernst zu nehmenden Reflexionsniveau mit einfachsten
Mitteln kritisiert, dabei aber zugleich eine deutliche Distanz zur
schlichten "Gleichmacherei" auf hohem Niveau als möglicher Alternative
einnimmt.
- Beispiel
2.1
Schokoladiger
Schokoladig
kam die Schokolade aus der Schokoladenfabrik.
Unverschämt schokoladig
lag sie dann im Laden und glotzte mich an.
Noch schokoladiger wurde sie
als ich den Preis sah.
Am schokoladigsten aber
lief sie auf dem Parkplatz in der Sonne über mein Sitzpolster.
- Beispiel
2.2
Steigerungsformen
wie hätten sie es denn gerne,
lieber kleiner oder lieber größer?
am liebsten am größten,
aber am besten am kleinsten.
denn das größte ist oft
am schnellsten zu klein
während das kleinste
immer noch wachsen kann.
- Beispiel
2.3
Gleichmacherei
Wenn keiner größer, keiner reicher, keiner schöner, keiner klüger ist
sind alle gleicher.
Wenn alle größer, alle reicher, alle schöner, alle klüger sind
ist keiner glücklicher.
Wenn keiner kleiner, keiner ärmer, keiner hässlicher, keiner dümmer ist
sind alle zufriedener.
3.
Gegensätze *
Zwei Beispiele von
oben, 2.2 und 2.3, konnten schon zeigen, wie interessant sich mit
Gegensatzpaaren arbeiten lässt, in den Beispielen also mit
klein-groß, klug-dumm, arm-reich und so fort. Es empfiehlt sich, im
Unterricht als Beispiele jedoch eher Eigenschaftspaare zu nennen,
die sich auf Dingeigenschaften beziehen, um einem Abgleiten der
Arbeit in persönliche Provokationen vorzubauen. Als - im weiteren
Sinne literarisches - Beispiel kann "Dunkel war's, der Mond schien
helle" vorgestellt werden. Reizvoll ist auch die Arbeit mit
Widersprüchen zwischen Nomen und zugehörigem Adjektiv. In
fortgeschrittenen Gruppen kann auch differenziert auf die
rhetorische Form des Oxymorons eingegangen werden.
Thomas Mann arbeitet
insbesondere im "Zauberberg" mit harten Gegensätzen. In kühler
Bergluft treffen sich Patienten mit Fieberneigung in einem
Lungensanatorium, "unten" die normale Welt, "oben" die Welt der
Kranken. Beim ersten Frühstück Hans Castorps sitzen an seinem Tisch
die "schlaffe" Frau Stöhr und die "aufgeregte" Hausschneiderin.
Allgemein mengen sich im Raum "gebräunte junge Leute" und "reifere
Personen". Auch die beiden Ärzte, die Castorp dann kennenlernt, sind
Gegensätze, durchaus mit Zügen von Karikaturen, Hofrat Behrens mit
blau verfärbten Wangen, Dr. Krokowski blass. Und keine Lösung der
Gegensätze bringt das Duell zwischen Settembrini und Naphta am Ende
des Romans, das Duell zweier entgegengesetzter Lebenshaltungen. Der
Roman endet mit dem Bild eines "entzündeten" Regenhimmels,
brennendem Wasser also gleichsam.
Ein anderer Meister
der Konfrontation von Gegensätzen war Hermann Hesse. Sein Werk
"Narziss und Goldmund" trägt das Spannungsverhältnis zweier
Lebenshaltungen schon im Titel. Der erste Satz des Werkes zeigt uns
den "von Doppelsäulchen getragenen Rundbogen des Klostereingangs von
Mariabronn". Den Doppelsäulchen gleiche ein verirrter
Edelkastanienbaum, "Sohn des Südens", der erst fruchtet, "wenn Obst
und Wein schon geerntet war". Hesse liebt zwar die nominalen
Fügungen, sein Abt ist "voll Güte, voll Einfalt, voll Demut". Um so
mehr fallen dann jedoch die oft belanglos wirkenden Adjektive auf.
Narziss ist ein "schöner Jüngling", mit "elegantem Griechisch",
"ritterlich tadellosem Benehmen", "stillem, eindringlichem
Denkerblick". Dem steht die Einschätzung des weit älteren Abtes
gegenüber, der in ihm "einen seltenen, zarten, vielleicht allzu früh
gereiften, vielleicht gefährdeten Bruder" sah, den etwas wie
"erkältende Luft" umgab.
Beispiel 3.1
Am Morgen
Als es am Morgen hell wurde
wurde meine Stimmung dunkel.
Ich wusch mich mit kalten Wasser
und machte mir einen heißen Tee.
Dann hörte ich unser Lied, ganz leise
als die Klingel lärmte: der Postbote wars.
Er brachte einen Brief von dir, der Umschlag war leer.
da ließ ich mich volllaufen.
Beispiel 3.2
Leise und Lauter
Leise wars, mein Herz schlug lauter,
Als du rasch zum Fenster schlichst.
Fröhlich krümmte mich der Schauder
Dass du dir ein Weichteil brichst.
Doch das Fenster ging nach innen
Und du krachtest in die Linnen.
Also stritten wir von neuem
Wer zu spät kommt muss bereuen.
4.
Reihung *
Adjektive laden zur Reihung ein. Auch hierfür finden wir literarisch
geadelte Beispiele bei Thomas Mann, in den "Buddenbrooks". Gleich zu
Beginn wird uns das Sofa vorgestellt, worauf die Konsulin
Buddenbrook saß, "auf dem geradlinigen, weißlackierten und mit einem
goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb
überzogen waren". Und so geht es weiter, gerne mit zwei, drei oder
gelegentlich auch mehr Adjektiven zu einer Person oder einem Ding.
Wobei stets die Gefahr der "Adjektivitis" im Hintergrund lauert - in
den "Buddenbrooks" sicherlich als stilbildendes Element einbezogen.
Die fast penetrant wirkende Reihung steht hier für die mit Dingen
sattsam ausgestattete großbürgerliche Existenz.
Auch Hesse
überschüttet den Leser bisweilen mit Adjektiven, so etwa wenn Narziß
und Goldmund das erste Mal aufeinander treffen und der eine
beschrieben wird als "so schön, so vornehm, so ernst, dabei so
gewinnend und liebenswert", der andere als "ernst wie ein Gelehrter
und fein wie ein Prinz, und mit dieser beherrschten, kühlen,
sachlichen, zwingenden Stimme". Wo bei Mann jedoch eine bestimmte
Lebensform sprachlich gestaltet wird, möchte Hesse uns seine Helden
in immer neuen Anläufen beschreibend näher bringen.
Beispiel 4.1
Das große, alte, graue Haus
Neben dem großen, alten, grauen Haus
lag ein kleiner, frisch gemähter, bunter Garten.
In dem kleinen, frisch gemähten, bunten Garten
stand ein bärtiger, unscheinbarer, bemoster
Gartenzwerg.
Der bärtige, unscheinbare, bemoste Gartenzwerg
trug eine rote, schmutzige, löchrige Jacke.
Auf die rote, schmutzige, löchrige Jacke
war hinten ein großes, altes, graues Haus gestickt.
Neben dem großen, alten, grauen Haus
stand ein Gartenzwerg.
- Lingu-Lyrics:
Ikon und Index, Syntagma und Paradigma
Der große Linguist des Prager Strukturalismus, Roman Jakobson,
unterschied im Blick auf Sprache allgemein, insbesondere aber im Blick
auf die Interpretation poetischer Texte in Ikonizität (bildhafte
Ähnlichkeit) und Indexikalität (Hinweis). Diese Unterscheidung operiert
quer zu einer anderen Jakobsonschen Unterscheidung, nämlich der in
poetische Produktivität auf syntagmatischer oder auf paradigmatischer
Ebene. Damit lassen sich vielfältige Modelle lyrischer Erzeugung
entwickeln, die wichtige Einblicke in den Aufbau und das Funktionieren
einer Sprache geben und für den Fremdsprachenlerner von erheblicher
Bedeutung sein können.
1. Ikonizität: Die bekannteste
Weise ihrer lyrischen Produktivität sind lautmalende Gedichte und
graphisch arbeitende Gedichte der Konkreten Poesie, etwa Morgensterns
"Fisches Nachtgesang". Das sind allerdings lediglich extreme
Ausprägungen der Ikonizität. Poesie
transportiert Inhalte stets auch über die lautliche und die
rhythmisch-metrische Ebene, Konkrete Poesie isoliert diese Ebenen
lediglich und verabsolutiert sie in eigenständigen lyrischen Produkten.
Jakobson
bringt als Beispiel für ganz schlichte Ikonizität in der Alltagssprache
die Pluralform mit "-s", etwa bei "cars", die eine quantitative Zunahme
zeige. Noch prägnanter ist die Pluralform durch Wortwiederholung in
manchen Sprachen, etwa dem Thailändischen ("dekdek" = Kinder). Als
sekundäre Ikonizität möchte ich den Metapherngebrauch in der Lyrik
bezeichnen, die Schaffung von "Sprach-Bildern" auf der inhaltlichen
Ebene, nicht in Grafik und Lautung.
2. Indexikalität: In der
Linguistik werden als Indizes etwa verweisende Zeichen wie die
Personalpronomina charakterisiert. Als lyrisches Gestaltungsprinzip ist
Indexikalität der Ikonizität gegenüber zweitrangig. Sie wird etwa in
Rimbauds berühmtem Gedicht "Enfance" zum dominierenden lyrischen
Prinzip, mit einem repetitiven "il y a". Konstitutiv wird sie auch in
einem auf den ersten Blick ganz konventiell "lyrischen" Text wie
Eichendorffs "Mondnacht": "Es war, als hätt' der Himmel ...". Der
Konjunktiv rückt hier gemeinsam mit dem "es" die Sprachbilderproduktion
auf die Ebene der expliziten Indexikalität. Die zweite Strophe entfaltet
eine lakonische Beschreibung, die das Geschehen in den Vordergrund
rückt. Selbst die Anhubzeilen der dritten Strophe, "Und meine Seele
spannte/Weit ihre Flügel aus", schaffen nicht eigentlich ein Bild,
sondern verweist auf einen dem Gedicht externen Sachverhalt. Schließlich
wird das "flog" der Seele ausdrücklich als reale Tätigkeit bestätigt
durch die konjunktivische Illustration "als flöge sie nach Haus". Dass
Eichendorffs Gedicht auch auf der Ebene der Lautgestaltung, der Melodik
und des Rhythmus äußerst durchformt ist, macht es doppelt interessant
aus linguistischer Sicht.
3. Syntagma: Die schlichteste
Form der lyrischen Arbeit mit der Syntax sind Stufengedichte, wie sie
unten bei den "Modellen" detailliert vorgestellt werden. Dabei wird ein
Satz im Fortgang der Gedichtzeilen um jeweils ein Wort erweitert,
ausgehend von einem Wort, endend in der siebten Zeile mit dem letzten
Wort. Spannend ist dabei, wie sich der Sinn eines Satzes mit seinem
Fortschreiten erst entwickelt und noch durch das letzte Wort in sein
Gegenteil verkehrt werden kann. Etwa im Satz "Aber natürlich beachten
wir diese Hinweise nicht". Dem könnte nach der unerwarteten Wendung in
die Negation die Erklärung folgen: "Denn die Quellen der Hinweise sind
höchst suspekt."
Darauf wird hier aber verzichtet, dies - oder anderes - mag der Lesende
sich selbst ergänzen.
Aber
Aber
natürlich
Aber
natürlich beachten
Aber
natürlich beachten wir
Aber
natürlich beachten wir diese
Aber
natürlich beachten wir diese Hinweise
nicht.
4. Paradigma: Der
Strukturalismus hat die paradigmatische Struktur der Sprache in einer
Weise herausgearbeitet, die sich auch anbietet zur lyrischen Produktion.
Knapp formuliert steht das Paradigma für die Austauschbeziehungen in
sprachlichen Äußerungen. Für Kinder lässt sich das Thema zunächst etwa
mit dem Zungenbrecher "Wenn hinter Fliegen Fliegen fliegen, fliegen
Fliegen hinter Fliegen". Ich habe selbst erlebt, welche Schwierigkeiten
Siebenjährige damit haben können, diesen Satz zu verstehen. Sie finden
ihn zwar toll und präsentieren ihn gerne, am liebsten in atemraubender
Geschwindigkeit. Aber oft reihen sie mehr "Fliegen" aneinander, als
sinnvoll ist - oder sie lassen eine aus. Da hilft es, das Verb
auszutauschen, etwa gegen "laufen". Also: "Wenn hinter Fliegen Fliegen
laufen, laufen Fliegen hinter Fliegen". Im nächsten Schritt kann dann in
diesem Satz das Nomen ausgetauscht werden: "Wenn hinter Menschen
Menschen laufen, laufen Menschen hinter Menschen". Und da macht es in
den Kinderköpfen dann früher oder später "Klick" - und eine enorme
geistige Herausforderung wurde bewältigt, etwas über Sprache gelernt,
Sprachstrukturen verstanden.
Die Austauschprobe ist eine wichtige Methode in der strukturalistischen
Linguistik zur Erschließung von Sprachstrukturen. Ein Lyriker, der sich
als Germanist und Anglist auch mit Linguistik gut auskannte, Ernst
Jandl, hat daraus erstaunliche Kunstwerke geschaffen. Etwa den Text
"erfolg beim dritten versuch" aus der Sammlung "Sprechblasen", 1979:
erfolg beim
dritten versuch
sich durch den
er
versucht
jakopfgen
eine kugel zu
sich durch den
er
versucht
jkaogpefn
eine kugel zu
sich eine
er
jagt
kkuogpefl
durch den
Ein
anderer Autor, der paradigmatische Muster in seinem Schreiben produktiv
machte, ist Arno Schmidt. Etwa in seinem Opus "Abend mit Goldrand", wo
es im Untertitel heißt:
"eine MärchenPosse / 55 Bilder aus der LEändlichkeit
/ für Gönner der VerschreibkKunst"
Dort
finden sich Bildungen wie:
voll von Cav- Tav-
ernen seltsame Unm
wege ich hab's doch vorhin schon
gesagtsehn : wie sehn se'nn aus ?
Am
Leitfaden linguistischer Konzepte können Lernende ihre Sprachkompetenz
spielerisch erproben und erweitern, entspannt einmal ein paar
Schreibregeln über den Haufen werfen, ihre Kreativität entwickeln und
sprachproduktiv arbeiten.
- Gedichtproduktion
nach Modellen
- Kinder
reimen gerne, das hilft ihnen dabei, ihre (Sprach-)Welt zu ordnen und
spielerische Freude mit der Entdeckung der Sprache zu verbinden. Reime
bringen ein Muster in eine komplexe Welt, machen diese überschaubar,
schaffen Strukturen, organisieren Wirklichkeit. Sie tragen auf der
symbolischen Ebene bei zur Komplexitätsreduktion und gestalten eine
gemeinsame Welt mit Erwachsenen und anderen Kindern durch einen ersten
Bestand an Gedichten, Reimsprüchen, Liedern. Das lässt sich in kleinen
Spielrunden auf elementarer Ebene einsetzen und üben, indem etwa
reihum die Frage beantwortet wird "Was reimt sich auf ...?". Oder ein
Kind wirf einem anderen Kind etwas zu (einen Ball, ein Stofftier - das
"Dichtertier") und nennt ein Wort. Das andere Kind muss einen Reim
darauf finden und macht dann weiter mit Werfen und Wort nennen.
- Beliebt
ist bei Kindern auch, bekannte Lieder mit neuen Texten oder neuen
Strophen zu versehen. Denken wir etwa an das unverwüstliche Lied
"Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad", zu dem jede Generation neue
Strophen erfindet. Hier wird das Gestalten von interessanten, witzigen
Bildern nach einem vorgegebenen rhythmisch-melodischen Muster gelernt
und Rhythmusgefühl, Melodiegefühl sowie sprachliche Kreativität
entwickelt. Übungen dieser Art können auch sinnvoll im
Deutschunterricht für Erwachsene und allgemein in den Bereichen DaF
oder DaZ eingesetzt werden.
- Anspruchsvoller
wird es bei der Produktion von Gedichten nach vorgegebenen Modellen,
die im muttersprachlichen Deutschunterricht für Kinder ebenso
eingesetzt werden können wie im Fremdsprachenunterricht allgemein und
speziell im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Beliebte Modelle für
die eigene Gedichtproduktion sind "Haiku" (interkulturelles Lernen), "Elfchen"
(Zahlen), "Schneeball"
(graphische Gestaltung), "Stufen" (syntaktische Akkumulation),
"Rondell" (Mustererkennung).
- 1.
Haiku: Die japanische Gedichtform lebt von der japanischen
Morenschrift. Eine Mora oder More - wörtlich bedeutet der
Begriff u.a. "Dauer" - ist in der antiken Verslehre die Maßeinheit für
die Silbenquantität. Der Begriff wird in der Sprachwissenschaft
verwendet zur Kennzeichnung der beiden japanischen Schriftsysteme
Katakana und Hiragana, die komplexe Laute bezeichnen, die weder mit
Phonemen (bestimmt durch die Artikulationsstellung), noch mit Silben
(bestimmt durch rhythmische Wortgliederung) identisch sind und
strukturell zwischen diesen beiden Einheiten stehen. Das japanische
Haiku sieht in der Regel drei Wortgruppen zu 5, 7 und 5 Moren vor. Ins
Deutsche übertragen gelten Dreizeiler mit regelhafter Silbenzahl als
Haikus, wobei die Übernahme des Musters 5-7-5, bezogen auf Silben,
dominiert. Diese Vorgabe sollte mit Lernenen jedoch nur als
Orientierung angegeben werden. In deutschen Silben wird in der Regel
mehr Inhalt transportiert als in japanischen Moren - allerdings teilt
das Japanische auch im Aussparen mit, es lässt mehr semantische
Explikations-Lücken zu.
- Inhaltlich
charakteristisch ist in japanischen Haikus ein Bezug zu den
Jahreszeiten und zu einzelnen Naturphänomenen sowie eine inhaltliche
Offenheit, die der Lesende selbst ausfüllen darf/muss. Ein Haiku
erzählt nicht. Die Sprechzeit ist das Präsens, als unmittelbare
Vergegenwärtigung eines Bildes, dessen Bedeutung vordergründig
eindeutig scheint, ein Frosch springt ins Wasser, ein Blütenblatt
fällt von einem Baum. Dieses Bild wird stets gleichsam kommentiert,
konterkariert oder unterstrichen durch eine Wendung, die das Bild
öffnet für vielfältige Deutungen. Eine Wendung, die auch den Charakter
einer Schlusspointe haben kann, wie wir sie vom Sonett kennen. Zur
Charakterisierung der Spezifik des Haiku wird gerne auf die japanische
Tuschezeichnung oder auf japanische Steingärten verwiesen.
- Diese
Gedichtform eignet sich kaum für die Arbeit mit Kindern, da sie einen
kontrolliert souveränen Umgang mit der Sprache erfordert und eine
bereits weit fortgeschrittene Welterfahrung.
Die
Beschäftigung mit dem Haiku kann auf unterschiedlichen Niveaustufen
auch mit einführenden Hinweisen auf den kulturellen und sprachlichen
Hintergrund dieser Gedichtform verbunden werden. So macht die
Arbeit mit dieser Gedichtform auch mit kulturellen Unterschieden der
Kunstproduktion bekannt und eröffnet ein Verständnis für die
jeweiligen Gestaltungsmöglichkeiten unterschiedlicher Sprachen.
Am Meer die Brandung
Schlägt Lücken in das Ufer
Ich rudere gern.
Die Tür ist noch zu
Ausweiskontrolle
Keiner verlässt uns.
Windräder klappern
Den Energiemarkt ab
Wir haben genug.
- 2.
Schneeball : Dieses Modell gibt eine graphische Form vor,
den Kreis - auch wenn der nur annähernd erreicht wird, wie dies eben
beim stoffweltlichen Schneeball - den Kindern gut vertraut und positiv
besetzt - auch der Fall ist. In der ersten Zeile steht ein Wort, in
den folgenden Zeilen jeweils ein Wort mehr, bis zu fünf Wörtern,
danach nimmt die Wörterzahl wieder ab. Analog
arbeiten Modelle wie "Sandglas", "Tanne" oder "Schiff" - natürlich
dann mit anderen Wörterzahlen und Zeilenstrukturen. Die inhaltliche
Vorgabe lautet, dass in der Mitte ein thematischer Wechsel stattfinden
sollte. Auf Syntax und grammatikalische Korrektheit darf von den
Lehrenden nicht zu streng geachtet werden, sonst wird die Arbeit zur
Qual für die Lernenden/Schreibenden.
- Hier
überlagern sich zwei wichtige Gestaltungselemente der Lyriktradition,
zum einen die inhaltliche Zweiteilung, wie wir sie etwa aus der
Sonettform in den beiden Quartetten kennen, zum anderen die graphische
Gestaltung der modernen konkreten Poesie. Wobei diese "visuelle
Poesie" der Moderne frühe Vorläufer schon in der Barockzeit hat, in
den "Figurengedichten". Beliebte graphische Gedichtform der Barockzeit
war die Sanduhr. Darin - im wörtlichen Sinne - verhandelte Themen
waren zumeist religiös-ethischer Art, der Bezug zum Memento mori liegt
nahe: Bedenke, wie die Zeit verrinnt. Auch das Kreuz begegnet als
Modell visueller Poesie der Barockzeit, was gleichfalls verständlich
ist vor dem kulturell-gesellschaftlichen Hintergrund der Epoche.
Andreas Thalmayr (Alias für Hans Magnus Enzensberger) nutzt das Kreuz
für die Titelseite seines Buches "Lyrik nervt" von 2004 - nebenbei ein
anregendes Buch auch für die Lyrikarbeit im Unterricht. Allerdings
setzt er das Kreuz in der schlichten Form mit zwei Wörtern mit einem
gemeinsamen Buchstaben in der Wortmitte ein, die heute auch gerne in
der Produktpräsentation/Werbung genutzt wird, als Überkreuzung der
beiden Titelwörter im zentralen "R".
- Die
im Deutschunterricht gebräuchliche Form des Schneeballs mit neun
Zeilen stammt von der 1960 in Paris gegründeten Gruppe aus
Literaten, Mathematikern und Schachspielern "Oulipo" ("Ouvroir de
littérature potentielle") und wurde von der Expertin für Creative
Writing Ingrid Böttcher in
Deutschland popularisiert.
- Im
Unterricht kann die Arbeit mit dem Gedichtmodell "Schneeball" drei
Funktionen erfüllen. Zum ersten die hier im Vordergrund stehende
unterstützende, sprachbildende Funktion für den sinnhaft eingebundenen
Spracherwerb. Zum zweiten können hier auch wesentliche Aspekte der
Lyriktradition vermittelt und zwei Epochen der Kulturgeschichte
exemplarisch angesprochen sowie Traditionsbezüge erörtert werden. Zum
dritten können die Lernenden hier die graphisch-visuelle Dimension der
Sprache bewußt erfahren und erproben.
Zeugnis
ich
freue
mich ein bisschen
wenns vorbei ist, ists
auch gut, dann sind nämlich
Ferien und wir fahren
ans Meer, Fischen
zuschauen beim
Schnorcheln.
Morgens
Wecker klingelt
aufstehen, Waschen, Klamotten
anziehen, lecker Frühstück reinhauen
Ranzen packen, Schuhe anziehen, losgehen
Richtung Schule,
der Wecker
bleibt zuhause, einfach
im Klassenzimmer
weiterschlafen.
Ähem
also ich,
echt
cool, Alter
was meinst du, noch
eine Ladung reinziehn zum Schluss?
ich meine, eine geht
immer, mein
Hirn
giert nach
Vokabln.
- 3.
Elfchen: Der Name bezieht sich auf die Wörterzahl in dieser
Gedichtform. Der spezifische Zeilenaufbau des Elfchens mit einem,
zwei, drei, vier Wörtern in vier Zeilen, dann einem abschließenden
Wort in der 5. Zeile, macht es formal dem "Schneeball" ähnlich, die
hier entstehende Figur kann als "Tanne" bezeichnet werden. Eine
strengere Variante des Elfchens schreibt elf Silben vor. Damit
rückt es in die Nähe des Haikus, denn die knappe Silbenzahl entspricht
in etwa dem lexikalischen Aussagegewicht eines Haiku. Ohne
Ellipse als Gestaltungsmittel ist bei beiden Varianten kaum
auszukommen. Doch während mit elf Wörtern noch durchaus "erzählt"
werden kann, entsteht bei elf Silben ein lakonisch knappes Bild, wie
es dem Haiku eigen ist - siehe das dritte Beispiel, das nur sieben
Wörter zählt, aber elf Silben. Nebenbei kann diese Gedichtform auch im
frühen Schulunterricht für den spielerischen Umgang mit dem Zählen
genutzt werden. Sinnvollerweise beginnt man dann ohne Formvorgabe,
lässt zunächst kurze Geschichten mit elf Wörtern bilden. Ein Beispiel
aus einer zweiten Grundschulklasse lautet: "Es regnet, es regnet, es
regnet. Wir werden naß. Wie lustig!" - daraus kann ein auf dem Kopf
stehendes Dreieck gebildet werden.
Es regnet, es regnet, es regnet.
Wir werden naß.
Wie lustig!
- Auch
diese Form hat ihre Vorläufer in der Barockzeit mit ihrer
spielerischen Wendung der mittelalterlichen Zahlensymbolik. Bekannt
ist die barocke Zahlensymbolik im Kunstbereich vor allem aus der Musik
und der Architektur, insbesondere mit der Drei als bedeutungsvoller
Zahl (Trinität, Göttlichkeit). Aber auch in der Lyrik spielten Zahlen
eine wichtige Rolle. Opitz erklärte den sechshebigen,
jambisch-alternierenden Alexandriner zum bestimmenden Versmaß der
deutschen Lyrik. Er schrieb selbst allerdings in seinen eigenständigen
Texten vorwiegend vierhebige, trochäisch-alternierende Zeilen - mit
der strukturbildenden Sechs als Zeilenzahl für die Strophe. Die Elf
erscheint nur randständig, war aber im Mittelalter, etwa bei Hildegard
von Bingen, strukturbildend als Verbindung der Sechs (Makrokosmos,
Schöpfung) mit der Fünf (Mikrokosmos, Mann-Frau). Für die Kirchenväter
war sie allerdings die Zahl der Sünde (Übertretung der 10 Gebote).
- Die
Schweizer Stadt Solothurn wurde in der Barockzeit ganz nach der Zahl
11 strukturiert, mit elf Türmen, elf Brunnen, elf Kirchen, elf Altären
in der Kathedrale St. Ursen, zu deren Eingang eine Freitreppe mit 3x11
Stufen führt. Ausschlaggebend war möglicherweise, dass Solothurn 1481
als elfte Stadt in den Schweizer Bund aufgenommen wurde. Eine Legende
erzählt, dass die 11. Thebäische Legion, in der Nähe von Salodurum,
der römischen Vorgängersiedlung von Solothurn, im vierten Jahrhundert
nach Christus rebellierte und niedergemacht wurde. 66 Legionäre
entkamen und flohen nach Salodurum, wo sie gefangen gesetzt, geköpft
und in die Aare geworfen wurden, dann jedoch mit den Köpfen unter dem
Arm wieder dem Fluß entstiegen. Zum Modell für Kinderlyrik wurde das
Elfchen aber wohl weniger aus zahlensymbolischen Gründen als vielmehr
aus dem Wortbezug zu "Elfe".
Pippi
ist frech
mir gefällt sie
ich möchte so sein
manchmal
Gelb
eine Birne
liegt unter dem Baum
herunter geworfen vom
Herbst
Zu
geschnürt
mein Bergschuh
ich wandere
los
4.
Stufen: Ein Gedichtmodell, das einen neuen Ansatz einbringt.
Und zwar geht es hier um die allmähliche Vervollständigung eines Satzes
in sieben Zeilen, ausgehend von einem Wort, wonach in jeder weiteren
Zeile ein Wort hinzugefügt wird, bis in der letzten Zeile ein einzeln
stehendes Wort den Satz abschließt und inhaltlich klärt. Man mag an das
Diktum von der "allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden" von
Heinrich von Kleist denken. Im Unterschied zu den anderen Modellen ist
hier kein formalästhetischer, sondern ein linguistischer, gleichsam
wissenschaftlich-analytischer Ansatz leitend. Für Lernende ist es
hilfreich, sich zunächst einen Satz mit sieben Wörtern auszudenken und
den dann aufzudröseln. In der Folge können mit dem gleichen Anfangswort
oder von den folgenden Zeilen ausgehend unterschiedliche Sätze erprobt
werden - das ist lehrreich und für die Lernenden auch herausfordernd!
Das Modell arbeitet mit der syntagmatischen Ebene der Satzbildung und
tastet sich an die Satzstruktur heran. Natürlich folgt es nicht exakt
den Vorgaben einer Konstituentengrammatik - deren Strenge finden wir
eher bei avancierten literarischen Produktionen. Das Prinzip begegnet
meines Wissens zuerst im Dadaismus. Schöne Beispiele finden wir in Ernst
Jandls "Laut und Luise" von 1976. Da strukturiert der Autor etwa im Text
"die tassen" einen Satz in analytischer Gegenbewegung zu unserem Modell
wie folgt:
die tassen
bette stellen sie die tassen auf den tesch
perdon
stellen sie die tassen
auf den tesch
perdon
die tassen auf den tesch
perdon
auf den tesch
perdon
Zur
Erklärung muss darauf hingewiesen werden, dass Jandl sich zugleich
verfremdender Lautarbeit bedient. So wird aus "bitte" ein "bette", aus
"Tisch" ein "tesch" und aus "Pardon" ein "perdon". Damit macht der Autor
klar, dass er mit der Verknappung anderes intendiert als eine
Affirmation bürokratisch-militärischen Sprechens. Eher haben wir hier
eine ironische Darstellung formalisiert knappen Sprechens vor uns, eine
Karikatur alltäglicher Befehlssprache, die sprachlich-lautliche
Differenzierung nivelliert.
Unsere Beispiele arbeiten schlichter, ohne deshalb banal zu sein. Der
erste Text greift das strukturbildende Element von Stufengedichten, das
Fortschreiten von Anfang bis Ende eines Satzes, auch thematisch auf. Mit
dem letzten Wort, "fern", wird nicht nur die Distanz zwischen Anfang und
Ende lakonisch benannt, sondern auch deutlich gemacht, dass im Deutschen
oft erst mit dem letzten Wort der Inhalt eines Satzes klar wird. Dies
macht auch einen Reiz der beiden anderen Beispiele aus, wobei das zweite
mit der unter Deutschlernern oft berüchtigten grammatischen Verbklammer
arbeitet, das dritte mit der semantischen Verbklammer eines
Verb-Kompositums ("rausfahren").
Am
Am Anfang
Am Anfang ist
Am Anfang ist das
Am Anfang ist das Ende
Am Anfang ist das Ende noch
fern.
Ich
Ich würde
Ich würde am
Ich würde am liebsten
Ich würde am liebsten deinen
Ich würde am liebsten deinen Mund
halten.
Sonntags
Sonntags fahren
Sonntags fahren wir
Sonntags fahren wir immer
Sonntags fahren wir immer aufs
Sonntags fahren wir immer aufs Land
raus.
5.
Rondell: Das seit der Barockzeit bekannte Rondell ist eine
äußerst geschlossene Gedichtform mit einem schlichten Reimmodell,
insofern lediglich zwei Reime vorkommen, die allerdings unterschiedlich
geordnet werden können. Kennzeichnend für das Rondell ist vor allem der
Refrain, eine wiederkehrende Gedichtzeile, die dem Rondell seine
spezifische Form gibt. Auch Wortwiederholungen über diesen Refrain
hinaus oder die Wiederholung einer mit dem Refrain verbundenen zweiten
Zeile sind beliebt. Der Ursprung dieser Gedichtform liegt im
kultivierten Rundtanz französischer Höfe, der liedhaft begleitet wurde.
Die
französischen Bezeichnungen lauten Rondeau, Roundel oder Rondel. Die
Form verbreitete sich rasch in Europa.
Ein
bekanntes Rondell von Georg Trakl mit dem französisierenden Titel
"Rondel" von 1912 arbeitet mit dem Reimschema abbba, sein Zeilenschema
ist A-B-X-B*-A.
Georg Trakl,
Rondel, 1912
Verflossen ist das Gold der Tage,
Des Abends braun und blaue Farben:
Des Hirten sanfte Flöten starben
Des Abends blau und braune Farben
Verflossen ist das Gold der Tage.
Bei
Übungen mit Schülern wird auf Reime in der Regel verzichtet. Ein
verbreitetes Übungsmodell sieht einen Achtzeiler vor, bei dem in jeder
Zeile ein kompletter Satz oder ein weitgehend selbständiger Teilsatz
steht. Die ersten beiden Zeilen und die letzten beiden sind identisch
und die erste (alternativ die zweite) Zeile kommt als eigentlicher
Refrain noch einmal vor, nach dem Muster A-B-X-A-X-X-A-B (alternativ
ABXBXXAB - siehe zweites Beispiel). Eine gleichfalls im Schulunterricht
verbreitete Variante sieht das Muster X-A-X-A-X-X-A-X vor, die
Refrainzeile ist "A", "X" ist ein beliebiger (Teil-)Satz. Ich selbst
setze gerne ein Modell ein, das mit einem Reim arbeitet: xaxaxaxa und
als Zeilenmodell A-X-A-X-A-X-A-X einsetzt (siehe das erste Beispiel).
Im zweiten Beispiel sind wir ganz nahe an der Schülererfahrung mit den
Themen "Zeugnis" und "Ferien". Formal haben wir eine stärkere Dynamik
durch die Aufweitung der strengen Rundform in den Zeilen 5 und 6. Diese
Dynamik wird inhaltlich unterstrichen durch die Steigerung der
Noten-Nöte des Schülers/der Schülerin nach der Zeugnisvergabe vor den
Ferien, die dem Text einen spannungsvollen Titel geben, der wie ein
ironischer Kommentar zum Inhalt des Gedichtes klingt. Komplementär dazu
steht der Text "Zeugnis" unter dem Schneeball-Modell. Dort hat das
Zeugnis die Funktion, den Weg in die Ferien frei zu machen.
Schneefall
Schneefall draußen
Das Autodach ist weiß.
Schneefall draußen
Spuren im Park als Beweis.
Schneefall draußen
Mein Glühwein ist heiß.
Schneefall draußen
Mir rinnt schon der Schweiß.
Ferien
Es hat Zeugnisse gegeben
Ich seh ziemlich alt aus.
Der Lehrer hat die Stirn gerunzelt
Ich seh ziemlich alt aus.
In Mathe steh ich schlecht
Und sogar in Sport.
Es hat Zeugnisse gegeben
Ich seh ziemlich alt aus.
6.
Ghasel: Diese Gedichtform stammt ursprünglich aus Persien
oder Indien. Im Deutschen gibt es die Bezeichnungs-Varianten "das
Ghasel" und "die Ghasele". Der persische Name bedeutet "Gespinst",
aber bezogen auf die Gedichtform auch "Liebesworte". Die Form
besteht aus einer offenen Zahl von Zweizeilern, die idealiter dem
Reimschema aa-xa-xa-xa ... folgen. Der bekannteste Ghasel-Dichter
ist Hafis (etwa 1320 bis 1390), der Goethe zu seinem
"West-östlichen Divan" (1819) inspirierte - wobei Goethe ihn in
der Übersetzung von Joseph von Hammer-Purgstall (1812) kennen
gelernt hatte.
Bei Goethe heißt es in einem Gedichtentwurf aus dem Nachlass, ganz
dem intellektuellen Klima der Zeit verpflichtet, geprägt durch die
Turquerie des 18. Jahrhunderts, die zahlreichen Übersetzungen
arabischer Literatur, Friedrich Schlegels Beschäftigung mit der
"Sprache und Weisheit der Indier" (1808) und eine allgemeine
kulturelle Neugierde und Offenheit:
Wer sich
selbst und andre kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
Purgstalls Schüler Friedrich Rückert verdanken wir weitere
bedeutsame Übersetzungen der Texte Hafis'. Hier ein Beispiel, das
- vordergründig - den Weingenuss zum Thema hat:
Der Wein nahm mich wieder mir selbst aus der Hand,?
Er hat mich mit mächtiger Hand angerannt.??
Sei tausendmal Heilgruß dem rötlichen Wein,?
Durch den mir die Blässe vom Antlitze schwand.??
Ich segne die Hand, die den Weinstock gepflanzt:?
Nie lahm sei der Fuß, der die Kelter bestand!??
Zurück nicht zu weisen ist Himmels Geschenk,?
Mir ward von dem Himmel die Liebe gesandt.??
Was prahlst du mit Weisheit? Im Tod ist sich gleich?
Ein Plato der Stadt und ein Kurde vom Land.??
O lebe du so in der Spanne der Zeit,?
Daß, wann du gestorben, nicht tot wirst genannt.??
In Ewigkeit läßt nicht Hafis von dem Wein,?
Von Ewigkeit ist ihm der Becher verwandt.
Darin liegen Reiz und Risiko der Beschäftigung mit dem Ghasel im
Unterricht: Die vordergründigen Hauptthemen Liebe, Freundschaft,
Weingenuß können mit Interesse rechnen. Sie bergen jedoch auch die
Gefahr des Abirrens in Belanglosigkeit, Witzelei, Spott - zumal
durch den ungewohnten Ton aus zeitlich und räumlich fernem
Kontext. Um dies zu vermeiden, ist historische Arbeit zu leisten,
müssen der Zeithorizont von Hafis thematisiert, die Bedeutung des
Weinbaus in der Kulturentwicklung der Region sowie allgemein und
die Bedeutung Platos wie der Kurden in der Hafis-Zeit erörtert
werden. Dann werden die Anliegen im Hintergrund sichtbar, die
Fragen nach Identität, Lebenssinn, Lebensfreude, Transzendenz, und
Vergänglichkeit, die diese Gedichtform mit prägen. Und nebenbei
relativiert der Text den Unterschied zwischen städtischem
Intellektuellem ("Plato") und Landbewohner ("Kurde") am Maßstab
eines gelingenden Lebens.
Hier ein Beispiel, wie der obige Hafis/Rückert-Text in ähnlich
saloppe Gegenwartssprache übertragen werden kann:
Ich hab die Kontrolle verloren, verdammter Wein
Er hat mich umgehaun, ich kam nicht mehr heim.
Ok, ich war nicht mehr sauer, dass Du mich verlassen hast
Aber mit roter Nase lag ich im Dreck wie ein Schwein.
Soll ich dem Aldi danken, dass die Weinbox billig war?
Ne, denn mein Kater war ziemlich gemein!
Zum Glück hat ein Freund mich aufgelesen
Zu sich nach Hause gebracht, da war ich nicht allein.
Jetzt mach mal bitte nicht auf moralisch,
Du hast auch mal gesoffen, bilde Dir bloß nichts ein.
Beim nächsten Mal nehm ich eine gute Flasche
Und trink sie mit dem Freund, beim Zusammensein.
Denn solang ich vom Wodka die Finger lasse
Bleiben die Kollateralschäden klein.
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